Der tausendfältige Gedanke
zu den Schmerzen stand, die er haben musste. »All unser Handeln richtet sich danach, was wir als wahr erachten, Proyas – was wir zu wissen glauben. Diese Verbindung ist so eng und unbestreitbar, dass wir im Falle einer Bedrohung versuchen, die für uns notwendigen Wahrheiten durch unser Handeln wahr zu machen. Wir verurteilen die Unschuldigen, um sie schuldig zu machen. Wir erheben die Bösen, damit sie heilig werden. Wie eine Mutter, die ihr totes Kind wiegt, leben wir unsere Weigerung aus.«
Kellhus hatte, wie so oft, atemlos innegehalten, als beriete er sich mit Stimmen, die andere nur undeutlich vernehmen konnten. Er hob die Hand zu einer merkwürdigen Geste – als wollte er bittere Worte fernhalten. Proyas sah das Blut noch vor sich, das wie Tinte in Kellhus’ Handlinien stand und von dem Gold, das seine ausgestreckten Finger umgab wie eine Aura, dunkel abstach.
»Wenn wir ohne Grund oder Anlass glauben, Proyas, dann haben wir nur unsere Überzeugungen, und dann werden Überzeugungstaten unsere einzigen Beweise. Unsere Glaubensüberzeugungen werden zu unserem Gott, und wir bringen Opfer, um ihn zu besänftigen.«
Und schon war er seiner Sünden ledig, als hieße, erkannt worden zu sein, dass einem vergeben war…
Plötzlich entdeckte er den Scylvendi unter denen, die sich um den Eingang zum Ratssaal drängten. Er hatte kein Hemd an, sondern eine Weste aus Münzen, die mit Lederschnüren zusammengehalten wurden – wohl, damit seine Wunden atmen konnten. Wie immer trug er seinen mit Eisenplatten besetzten Gürtel, diesmal über einem Kilt aus schwarzem Damast. Seine vernarbten Arme wirkten ehrfurchtgebietend, und Proyas sah manchen vor ihnen zurückschrecken, als wäre das Gemetzel, für das sie standen, ansteckend. Ausnahmslos wichen die Männer des Stoßzahns vor ihm zurück – wie Hunde vor einem Löwen oder einem Tiger.
Der Scylvendi hatte etwas, das selbst denen, die ein Herz aus Granit hatten, tiefen Schrecken in die Knochen fahren ließ. Es war mehr als seine barbarische Herkunft und die wilde Kraft, die aus jeder Pore seines Leibs zu strömen schienen – mehr sogar als die grübelnde Intelligenz, die seinem Blick solche Tiefgründigkeit verlieh: Cnaiür von Skiötha umgaben eine Leere und ein Mangel an Zurückhaltung, die jede Brutalität möglich erscheinen ließen.
Der grausamste Kämpfer auf Erden. So hatte Kellhus ihn genannt. Und er hatte Proyas gewarnt, er solle sich vorsehen…
»Irrsinn hat ihn ergriffen.«
Nicht zum ersten Mal betrachtete Proyas die höckrige Narbe auf der Kehle des Barbaren.
Cnaiür hatte seinen Blick bemerkt, trat auf ihn zu und baute sich vor ihm auf. Das Schwarz seiner ungekämmten Mähne ließ seine eisigen Augen noch deutlicher hervorstechen. Er nickte kurz, als Proyas ihn folgen hieß. Xinemus berührte den Prinzen von Conriya am Ellbogen und hielt sich fest. So führte Proyas nun beide Männer durch die rot verglasten Galerien des Sapatishah-Palasts. Niemand sagte ein Wort.
Als Proyas im langen Schatten des Prozessionshofs stehen blieb und sich an den Scylvendi wandte, musste er den Drang niederkämpfen, aus seiner Reichweite zu treten.
»Also… was denkst du?«
»Dass Conphas sich in den Schlaf lachen wird«, stieß Cnaiür verächtlich hervor. »Aber Ihr habt mich nicht gerufen, um meine Gedanken auszuloten.«
»Nein.«
»Proyas?«, fragte Xinemus, als bemerkte er jetzt erst, wie unschicklich seine Anwesenheit war. »Ich sollte euch zwei besser allein lassen…«
Er ist mitgekommen, weil er nirgendwo anders hingehen konnte.
Cnaiür schnaubte.
Die Scylvendi hatten, wie Proyas annahm, wenig Verwendung für Krüppel. »Nein, Xin«, sagte er. »Ich vertraue dir wie keinem anderen.«
Plötzlich begriff der Barbar und zog ein finsteres Gesicht. Einen Moment lang bemerkte Proyas etwas Unheilvolles in seinem Blick, eine gegen sich selbst gerichtete Wut, als würfe er sich vor, eine tödliche Gefahr übersehen zu haben.
»Er hat Euch gesandt«, sagte Cnaiür.
»Das hat er.«
»Wegen Conphas.«
»Ja… du wirst bei Conphas in Joktha bleiben, während der Heilige Krieg nach Shimeh zieht.«
Lange Zeit sagte der Scylvendi nichts, obwohl sein Blick und seine Körpersprache von heller Wut zeugten. Der Barbar zitterte sogar. Schließlich sagte er beängstigend ruhig: »Ich soll also sein Kindermädchen spielen.«
Proyas atmete tief ein und quittierte die zudringlichen Grüße einiger Vorübergehender mit einem bösen Blick. »Nein«, gab er zurück und
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