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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Kellhus mit einem Blick, der zwischen Hoffen und Bangen lag. Selbst die Luft schien betäubt zu sein.
    Achamian hatte sieben Monate gebraucht, um die sagbare Hälfte der Formel auszusprechen und zugleich deren tabuisierte Hälfte zu denken, und auch das war ihm nur gelungen, weil er mit den semantischen Hilfskonstruktionen der Denotarien begonnen hatte. Bei Kellhus dagegen…
    Es war so still, dass er zu hören glaubte, wie die Laternen ihr weißes Licht verströmten.
    Dann nickte Kellhus mit einem kaum wahrnehmbaren, jenseitigen Lächeln, sah ihm direkt in die Augen und wiederholte: »IRATISRINEIS LO OCOIMENEIN LOROI HAPARA«, aber so, dass es wie verhallender Donner klang.
    Erstmals sah Achamian Kellhus’ Augen glühen – wie Kohlen unterm Blasebalg.
    Blanke Angst nahm ihm die Luft und ließ seine Glieder kraftlos werden. Wenn ein Narr wie er mit solchen Worten steinerne Befestigungen zu Fall bringen konnte, wozu war dieser Mann dann im Stande?
    Wo lagen seine Grenzen?
    Er erinnerte sich an einen lange zurückliegenden Streit mit Esmenet in Shigek, ehe er zur Sareotischen Bibliothek geritten war. Was bedeutete es für einen Propheten, mit Gottes Stimme zu singen? Würde das einen Schamanen aus ihm machen – wie zu jenen Zeiten, die im Stoßzahn beschrieben waren? Oder einen Gott?
    »Ja«, murmelte Kellhus und sprach die Worte erneut aus – Worte aus dem Kern des Daseins, die in der Seele widerhallten. Seine Augen blitzten wie flammendes Gold. Boden und Luft schienen zu dröhnen.
    Und schließlich begriff Achamian…
    Ihn zu verstehen, liegt außerhalb meiner Vorstellungskraft.



7. Kapitel
     
    JOKTHA
     
     
     
    Jede Frau weiß, dass es nur zwei Arten von Männern gibt: solche, die Gefühle haben, und solche, die sie vortäuschen. Denk immer daran, meine Teure: Zwar kann man nur Erstere lieben, darf aber nur Letzteren vertrauen, denn Leidenschaft, nicht Berechnung macht blind.
     
    Aus dem Brief eines unbekannten Verfassers
     
     
    Es ist weit besser, die Wahrheit zu überlisten, als sie zu begreifen.
     
    Sprichwort der Ainoni
     
     
     
    JOKTHA, VORFRÜHLING 4112
     
    Sie tafelten im privaten Esszimmer des toten Granden, der einst im Donjon-Palast geherrscht hatte. Der Raum besaß all die Merkmale, die Cnaiür inzwischen mit der Ausstattung der Kianene – die weit prächtiger war als die der Fanim im Allgemeinen – in Verbindung brachte. Die Schwelle war so behauen, dass sie einer kunstvoll geflochtenen Strohmatte glich. Das eiserne Gitterwerk des einzigen Fensters, das der Tür gegenüberlag, hatte einst gewiss die gleichen blühenden Reben besessen, die er überall in der Stadt an solchen Fenstern gesehen hatte. Und die Fresken an den Wänden zeigten keine naturalistischen oder stilisierten Bilder, sondern geometrische Figuren.
    Die Mitte des Zimmers fiel drei Stufen ab, sodass es aussah, als sei der Tisch, der Cnaiür nur bis zu den Knien reichte, aus dem Fußboden gehauen worden. Er war aus Mahagoni und so blank poliert, dass er wie ein Spiegel glänzte, wenn man ihn aus dem richtigen Winkel betrachtete. Weil sie mit einer Menge Kerzen als einziger Lichtquelle versammelt waren, schien es, als säßen sie in einem versunkenen Nest aus Kissen inmitten einer dunklen Galerie.
    Alle hatten Mühe, sich nicht die Knie aufzuscheuern – das ewige Problem, wenn man an den Tischen der Kianene aß. Cnaiür saß am Kopfende, Conphas gleich rechts von ihm, gefolgt von General Sompas von den Kidruhil, General Areamanteras von der Kolonne Nasueret, General Baxatas von der Kolonne Selial und General Imyanax von den Hilfstruppen aus Cepalor. Gleich links von Cnaiür saßen die Barone Sanumnis und Tirnemus sowie Troyatti, der Hauptmann der Hemscilvara. Die Sklaven warteten im Halbdunkel ringsum, füllten Weinschalen nach oder räumten leere Teller ab. Zwei Ritter aus Conriya in voller Montur sahen ihnen durch ihre silbernen Kriegsmasken hindurch vom Eingang her zu.
    »Sompas sagt, auf deiner Privatterrasse wurden Lichter gesehen«, bemerkte Conphas. Die Untertöne seiner lässig gestellten Frage ließen an hinterhältige Familienmitglieder denken, die Erkundigungen einzogen. »Wann war das?«, fragte er und sah seinen General kurz an. »Vor vier oder fünf Tagen?«
    »In der Regennacht«, sagte Sompas und blickte kaum von seinem Teller auf. Er hatte offenbar Vorbehalte – sei es hinsichtlich des nutzlosen Auftritts seines Oberbefehlshabers, sei es in Bezug auf die ganze Idee, mit dem Scylvendi, der sie gefangen

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