Der tausendfältige Gedanke
Kriegs Gerotha belagerte, stießen sie endlich zum Kern der Gnosis vor.
Kellhus strahlte vor Dankbarkeit und guter Laune. Dass er sich den flachsfarbenen Bart strich, war ein untypisches Zeichen von Aufregung, das ihm einen Moment lang Ähnlichkeit mit Inrau verlieh. In seinen Augen spiegelten sich drei Lichtpunkte, die von den über Achamian aufgehängten Laternen herrührten.
»Also ist es endlich so weit.«
Achamian nickte und wusste, dass seine Besorgnis offenkundig war. »Wir sollten mit einer einfachen Abwehrformel beginnen«, sagte er verlegen. »Damit du dich verteidigen kannst.«
»Nein«, entgegnete Kellhus. »Fang mit einer Beschwörungsformel an.«
Achamian runzelte die Stirn, hütete sich aber, Ratschläge zu erteilen oder zu widersprechen. Er atmete tief ein und wollte die sagbare Hälfte der Ishra Discursia aussprechen, der ältesten und einfachsten gnostischen Beschwörungsformel. Doch kein Ton kam ihm über die Lippen. Etwas… Unbeugsames hatte von seiner Kehle Besitz ergriffen. Er schüttelte den Kopf und lachte, schaute verlegen weg und versuchte es erneut.
Wieder vergeblich.
»Ich…« – Achamian sah Kellhus erstaunt an – »ich kann nicht sprechen.«
Kellhus musterte erst wachsam das Gesicht des Hexenmeisters und fasste dann einen leeren Punkt zwischen ihnen ins Auge. »Seswatha«, sagte er gleich darauf. »Wie sonst hätten die Mandati die Gnosis all die Jahre lang schützen können? Selbst mit den Alpträumen…«
Eine unerklärliche Erleichterung erfüllte Achamian. »Es – es muss…«
Er sah Kellhus hilflos an. So sehr er in Aufruhr war: Er wollte die Gnosis wirklich weitergeben. Sie belastete ihn wie ruchlose Taten, und in Gegenwart des Kriegerpropheten strebten alle Geheimnisse irgendwie ans Licht. Er schüttelte den Kopf, legte das Gesicht in die Hände und sah, wie Xinemus schrie und sein Antlitz sich um das Messer in seinem Auge zusammenzog.
»Ich muss mit ihm sprechen«, sagte Kellhus.
Achamian schaute ihn ungläubig an. »Mit Seswatha? Ich verstehe nicht.«
Kellhus zog den Dolch aus Eumarna aus dem Gürtel. Er hatte einen Griff aus schwarzen Perlen und eine lange, dünne Klinge und ähnelte den Messern, die sein Vater zum Entgräten benutzt hatte. Einen erschrockenen Moment lang dachte Achamian, Kellhus wollte ihn entbeinen und Seswatha aus ihm herausschneiden – vielleicht so, wie die heilkundigen Priester zuweilen Kinder aus sterbenden Müttern schnitten. Stattdessen ließ er nur den Knauf auf seinem Handteller rotieren und balancierte ihn so, dass der Stahl aus Seleukara im Schein des Feuers blitzte.
»Betrachte einfach nur das Spiel des Lichts«, sagte er.
Unentschlossen blickte Achamian auf die Waffe, und sofort fesselten ihn die mannigfaltigen Lichtreflexe, die um die Achse der rotierenden Klinge strichen. Er glaubte, Silber durch tanzendes Wasser zu sehen, dann…
Das Folgende entzog sich der Beschreibung. Er hatte ein merkwürdiges Gefühl von Dehnung, als wären seine Augen durch den Raum in verschiedene Ecken gezogen worden. Er konnte sich daran erinnern, dass sein Kopf in den Nacken gefallen war und er den Eindruck gehabt hatte, dass er zwar noch seine Knochen besaß, seine Muskeln aber einem anderen gehörten, von dem er in viel gründlicherer Weise gefesselt schien als durch Ketten oder gar Bestattung. Er konnte sich erinnern, gesprochen zu haben, bekam aber nichts von dem zusammen, was er gesagt hatte. So rasch er den Kopf auch hin und her riss: seine Erinnerung blieb auf die Peripherie seiner Wahrnehmung fixiert. Alles schien sich an der Schwelle des Wahrnehmbaren ereignet zu haben.
Er fragte Kellhus, was sich zugetragen hatte, doch dieser brachte ihn durch ein Lächeln mit geschlossenen Augen zum Schweigen – mit jenem Lächeln also, mit dem er gewöhnlich all die Fragen mühelos abtat, die äußerst wichtig schienen. Dann forderte er Achamian auf, es noch mal mit dem ersten Satz zu versuchen. Beinahe ehrfürchtig merkte der Hexenmeister, wie ihm die Worte über die Lippen kamen – die erste, sagbare Hälfte der Beschwörungsformel…
»Iratisrineis lo ocoimenein loroi hapara… «
Dann sprach er die zweite, tabuisierte Hälfte der Formel aus.
»Li lijineriera cui ashiritein hejaroit… «
Einen Moment lang fühlte Achamian sich vor Erleichterung, beide Hälften des Textes nacheinander vorgetragen zu haben, verwirrt. Wie dünn sich seine Stimme anfühlte! In dem Schweigen, das nun folgte, nahm er seine Sinne wieder zusammen und musterte
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