Der tausendfältige Gedanke
Darlegungen stürzte.
»Kern aller Hexenkunst, Kellhus, ist das Aufrechterhalten und Ausdrücken der unverfälschten Modalitäten der Bedeutung. Bei jedem Wort musst du seinen semantischen Inbegriff treffen, um den Chor der Wirklichkeit zu übertönen.«
Kellhus hielt ihn mit seinem Blick gefangen, der so gelassen und reglos war wie der eines Götzen der Nilnameshi. »Deshalb«, sagte er, »verwendest du eine alte Sprache der Nichtmenschen als deine Lingua arcana.«
Achamian nickte nur, denn die übernatürliche Einsicht seines Schülers überraschte ihn nicht mehr. »Gewöhnliche Sprachen – zumal die Muttersprache – sind zu stark den unmittelbaren Lebensumständen verhaftet. Unsere Einsichten und Erfahrungen verzerren ihre Bedeutungen allzu leicht. Die vollkommene Andersartigkeit des Gilcunya dient dazu, die Semantik der Hexenkunst von den Ungereimtheiten unseres Lebens freizuhalten. Die anagogischen Orden« – er versuchte, seine Stimme nicht verächtlich klingen zu lassen – »verwenden aus diesem Grunde Hoch-Kunnisch, eine vulgarisierte Form des Gilcunya…«
»… um wie die Götter zu sprechen«, sagte Kellhus. »Den Sorgen der Menschen entrückt.«
Nach einem raschen Überblick über die Thesen der Sohonc wandte Achamian sich den Persemiota zu, den Bedeutung festlegenden Meditationstechniken, die die Mandati – dank des ihnen innewohnenden Seswatha – weitgehend ignorierten. Anschließend vertiefte er sich in die technischen Abgründe des Semansis Dualis, also in die unmittelbare Hinführung zu dem, was bis zur Ankunft des Mannes, der vor ihm saß, als letzte Vorstufe der Verdammung gegolten hatte.
Er erklärte die entscheidende Beziehung zwischen den Hälften einer jeden Formel: zwischen dem tabuisierten Text, der unausgesprochen zu bleiben hatte, und dem Sagbaren, das es auszusprechen galt. Da jede Bedeutung durch die Umstände verzerrt werden konnte, bedurften die Formeln einer zweiten, gleichzeitigen Bedeutung, die – obwohl verzerrungsanfällig wie die erste – diese dennoch stützte und von ihr gestützt wurde. Wie Outhrata, der große Metaphysiker der Kûniüri, einst gesagt hatte: Um fliegen zu können, braucht die Sprache zwei Flügel.
»Also dient der tabuisierte Text dazu, die Bedeutung des Sagbaren festzulegen«, folgerte Kellhus. »So wie die Worte eines Mannes die eines anderen absichern können.«
»Genau«, erwiderte Achamian. »Man muss das eine denken und zugleich das andere sagen. Das ist die größte Herausforderung – größer sogar als die Mnemonik. Und sie erfordert die meiste Übung.«
Kellhus nickte ganz unbekümmert. »Darum haben die anagogischen Orden die Gnosis nie stehlen können. Das einfache Wiederholen des Gehörten nämlich ist nutzlos.«
»Man muss auch die Metaphysik beachten. Aber natürlich sind die tabuisierten Texte in jeder Hexenkunst das Entscheidende.«
Kellhus nickte. »Hat mal jemand versucht, sich allein an die tabuisierten Texte zu halten?«
Achamian schluckte. »Worauf willst du hinaus?«
Zufällig flackerten zwei Hängelampen gleichzeitig, was Achamian aufsehen ließ. Schon im nächsten Moment aber leuchteten sie ruhig weiter.
»Hat jemand Formeln entwickelt, die aus zwei tabuisierten Texthälften bestehen?«
Der Dritte Satz war ein Mythos der gnostischen Hexenkunst und stammte aus dem Zeitalter der Vormundschaft der Nichtmenschen. Es handelte sich um die Legende von Su’juroit, dem großen Hexenkönig der Cunuroi. Aber Achamian war es zuwider, davon zu erzählen. »Nein«, log er, »das ist unmöglich.«
Seither bestimmte eine seltsame Kurzatmigkeit ihren Unterricht – das beunruhigende Gefühl, die Banalität dessen, was Achamian sagte, strafe die unvorstellbaren Auswirkungen der Formeln Lügen. Jahre zuvor war er an einem von den Mandati gebilligten Anschlag auf einen mutmaßlichen Kundschafter der Ainoni in Conriya beteiligt gewesen. Achamian hatte lediglich ein gefaltetes Eichenblatt mit Belladonna an einen Küchensklaven weitergegeben. Es war so einfach, so harmlos gewesen…
Drei Männer und eine Frau waren gestorben.
Wie stets musste er Kellhus die verschiedenen Themen nur einmal knapp erläutern. Im Laufe einzelner Abende eignete der Kriegerprophet sich Beweisführungen, Erklärungen und Details an, für deren Verinnerlichung Achamian Jahre gebraucht hatte. Seine Fragen trafen immer den Kern der Sache. Strenge und Scharfsinn seiner Beobachtungen ließen den Hexenmeister immer wieder schaudern. Als die Vorhut des Heiligen
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