Der tausendfältige Gedanke
Überheblichkeit sich nach der Lücke zwischen dem Geforderten und dem Gerechtfertigten bemaß?
Kellhus hatte nie mehr verlangt als das ihm Zustehende. Es hatte sich einfach ergeben, dass die ganze Welt in den Bereich seiner Zuständigkeit fiel.
Manchmal scherzte Achamian mit ihm wie in alten Zeiten, als hätte es die Offenbarungen von Caraskand nie gegeben. Als hätte es Esmenet nie gegeben. Kaum aber nahm er unvermittelt das auf einen Ärmel gestickte Zirkumfix oder den Hauch eines Frauenparfüms wahr, verwandelte Kellhus sich vor seinen Augen. Er strahlte dann eine unerträgliche Intensität aus – wie ein fleischgewordener Magnetit, der unsichtbare und doch greifbare Dinge in seinen Wirkungskreis zog. Schweigen siedete. Worte waren wie Donnerschläge. Jeden Moment schien die stumme Intonation von hunderttausend Priestern zu durchhallen. Wenn ihn Schwindel erfasste, umschlang Achamian zuweilen seine Knie. Und mitunter blinzelte er, um den Eindruck loszuwerden, auratisches Leuchten umgebe die Hände des Kriegerpropheten.
In seiner Gegenwart zu sitzen, war schon überwältigend genug. Was bedeutete es da erst, ihn die Gnosis zu lehren?
Um Kellhus gegen Chorae möglichst wenig verletzlich werden zu lassen, hatten sie vereinbart, sich allen linguistischen und metaphysischen Aspekten der Gnosis zuzuwenden, die eigentlichen Formeln aber zunächst nicht zu berücksichtigen. Wie bei jeder exoterischen Kunst oder Wissenschaft verlangte auch der Unterricht in Esoterika Vorkenntnisse, arkane Analogien zum Lesen und Schreiben sozusagen. In Atyersus fingen die Lehrer immer mit den sogenannten Denotarien an, einfachen Vorläufern von Formeln, die die intellektuelle Flexibilität der Schüler schrittweise bis zu dem erstaunlichen Punkt entwickeln sollten, an dem sie die arkane Semantik zu verstehen und auszudrücken vermochten. Die Denotarien allerdings ließen bei den Schülern – wie alle Zauberformeln – das Hexenmal hervortreten. Also musste Achamian in mancher Hinsicht von hinten anfangen.
Er begann damit, dem Kriegerpropheten Gilcunya beizubringen, die Sprache aller gnostischen Zauberformeln also und zugleich die arkane Sprache, der sich die Magier der Nichtmenschen bedienten. Das nahm keine zwei Wochen in Anspruch.
Zu behaupten, Achamian sei erstaunt oder gar entsetzt darüber gewesen, hieße, eine nicht verbalisierbare, emotionale Gemengelage in Worte fassen zu wollen. Er hatte drei Jahre gebraucht, um nur die Grammatik dieser exotischen, ganz und gar fremden Sprache zu beherrschen (von ihrem Vokabular ganz zu schweigen).
Als der Heilige Krieg aus den Hügeln von Enathpaneah kam und in Xerash einmarschierte, begann Achamian, den philosophischen Unterbau der gnostischen Semantik zu erörtern – die Aeturi Sohonca also, die Thesen der Sohonc. Man durfte die Metaphysik der Gnosis nicht überspringen, auch wenn sie wie jede andere Philosophie unvollständig und in sich nicht schlüssig war. Ohne ein gewisses Verständnis der Metaphysik war das Aussprechen der Formeln kaum mehr als ein die Seele betäubendes Herunterbeten unbegriffener Lautfolgen. Ob es sich nun um gnostische oder anagogische Hexenkunst handelte: stets hing sie von Bedeutungen ab, und diese Bedeutungen ließen sich allein systematisch erfassen.
»Vergegenwärtige dir«, erklärte Achamian, »dass dieselben Worte für verschiedene Menschen unterschiedliche Bedeutungen haben können. Mitunter haben sie sogar für dieselben Menschen unter unterschiedlichen Umständen verschiedene Bedeutungen.«
Er kramte in seinem Gedächtnis nach einem Beispiel, konnte sich aber nur daran erinnern, wie sein Lehrer Simas ihm diesen Zusammenhang vor vielen Jahren verdeutlicht hatte. »Wenn ein Mann ›Liebe‹ sagt, hat dieses Wort je nach Adressat – sei es sein Sohn, seine Hure, seine Frau oder Gott – ganz unterschiedliche Bedeutungen. Darüber hinaus aber hängt die Bedeutung eines Wortes auch davon ab, wer es verwendet: Spricht ein Priester in tiefem Schmerz das Wort ›Liebe‹ aus, so meint er etwas ganz anderes als ein ungebildeter Halbwüchsiger, der sich des gleichen Wortes bedient. Verlusterlebnisse, Lernen und die Erfahrungen eines langen Lebens haben den Priester milde gestimmt, während der Heranwachsende nur Begehren und Leidenschaft kennt.«
Er kam nicht umhin, sich beiläufig zu fragen, was das Wort Liebe inzwischen für ihn selbst bedeutete. Wie immer vertrieb er solche Gedanken – also den Gedanken an Esmenet –, indem er sich in seine
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