Der Tempel der Ewigkeit
Zweiten Propheten zu?» fragte der Oberpriester von Memphis.
«Ich erachte das Dienstalter nicht als ausreichenden Grund für eine Ernennung.»
«Darf ich Majestät auf die Gefahren hinweisen, die von mangelndem Sachverstand ausgehen?» meldete sich der Dritte Prophet des Amun zu Wort. «Im weltlichen Bereich ist es gewiß möglich, unkundigen Männern Verantwortung zu übertragen, in der Verwaltung von Karnak wäre dies indes ein Fehler. Hier gebührt der Erfahrung und Ehrbarkeit der Vorrang.»
«Dann sprechen wir doch von dieser Ehrbarkeit. Wußtest du, daß ein unerlaubter Handel mit Leinenstoffen erlesenster Güte blüht, der innerhalb von Karnak seinen Anfang nimmt?»
Die Worte des Königs lösten tiefes Unbehagen aus.
«Sollte der Verstorbene damit etwas zu tun gehabt haben?»
«Es sieht nicht danach aus, aber du wirst verstehen, weshalb es mir wünschenswert erscheint, seinen Nachfolger nicht aus den Reihen der gegenwärtigen hohen Priesterschaft des Tempels auszuwählen.»
Nach dieser unerwarteten Erklärung herrschte langes Schweigen.
«Hat Majestät bereits einen bestimmten Namen im Sinn?» erkundigte sich der Oberpriester von Heliopolis.
«Ich erwarte von dieser Versammlung einen bedenkenswerten Vorschlag.»
«Wieviel Zeit gestehst du uns zu?»
«Die Gepflogenheiten erfordern es, daß ich jetzt in Begleitung der Königin und einiger Mitglieder des Hofes mehreren Städten und Tempeln einen Besuch abstatte. Sobald ich zurückgekehrt bin, werdet ihr mir das Ergebnis eurer Beratungen vorlegen.»
Vor dem Aufbruch zu dieser traditionellen Reise durch Ägypten, die der neue Pharao im ersten Jahr seiner Herrschaft antreten mußte, begab sich Ramses in den am westlichen Ufer des Nils gelegenen Tempel von Kurna, in dem Sethos und seinem unsterblichen Ka gehuldigt wurde. Jeden Tag brachten ihm dafür ausersehene Priester Fleisch, Brot, Gemüse und Früchte als Opfergaben dar und sprachen die magischen Formeln, dank deren die Seele des verstorbenen Königs auf Erden verweilen konnte.
Lange betrachtete Ramses ein Relief, das seinen Vater in ewiger Jugend Auge in Auge mit den Göttern darstellte. Er flehte ihn an, von diesem Stein herabzusteigen, aus dieser Mauer herauszutreten und ihn in die Anne zu schließen, auf daß seine Kraft, die Kraft dieses zu einem Stern gewordenen großen Herrschers, auf ihn übergehe.
Je mehr Tage verstrichen, desto stärker empfand Ramses die Abwesenheit Sethos’ als Prüfung und als Herausforderung. Als Prüfung, weil er diesen zuverlässigen und großherzigen Lehrmeister nicht mehr um Rat fragen konnte, und als Herausforderung, weil die Stimme des verstorbenen Pharaos in jedem seiner Gedanken nachhallte und ihm gebot, ungeachtet der Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellen mochten, weiter voranzuschreiten.
Für die Einwohner Thebens, ob sie nun wohlhabende Adlige, Handwerker oder vor ihren Haustüren schwatzende Mütter waren, erhob sich nur die eine, in ihren Gesprächen stets aufs neue gestellte Frage: Welche Höflinge würden Ramses und Nefertari mitnehmen, wenn sie durch die Beiden Länder reisten, um das Bündnis des Pharaos mit allen Gottheiten zu besiegeln?
Jeder hatte aus berufenem Mund oder von einem Bediensteten des Palastes die eine oder andere vertrauliche Mitteilung erhalten, und man glaubte aus sicherer Quelle zu wissen, daß die königliche Flotte zunächst gen Süden aufbrechen würde, bis Assuan, um sich dann gen Norden zu wenden und nilabwärts bis ins Delta zu fahren. Die Mannschaften der Schiffe waren davon in Kenntnis gesetzt worden, daß es galt, schnell voranzukommen, daß es großer Anstrengungen bedurfte und die Aufenthalte nur von kurzer Dauer sein würden. Doch jeder freute sich darüber, an dieser rituellen Reise teilnehmen zu dürfen, in deren Verlauf das königliche Paar von Ägypten Besitz ergriff, um das Land im Einklang mit der Maat und ihren immerwährenden Gesetzen zu halten.
Seit sie ausgelaufen waren, unterbreitete Ameni dem König Tag für Tag gebündelte Schriftstücke zuhauf, deren Inhalt Ramses in allen Einzelheiten kennen mußte, ehe er mit seinen Statthaltern in den Provinzen, den Tempelverwaltern und den Vorstehern der wichtigsten Städte zusammentraf. Der Oberste Schreiber des Pharaos legte ihm den Lebenslauf jeder wichtigen Persönlichkeit vor, in dem er die verschiedenen Stufen ihrer Laufbahn, die angestrebten Ziele, die familiären Verhältnisse sowie die Freundschaften mit anderen Würdenträgern aufs genaueste
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