Der Tempel der Ewigkeit
Tempel zu Ehren Osiris’, des von seinem Bruder Seth ermordeten und von seiner Gemahlin Isis zu neuem Leben erweckten Gottes, errichten lassen. Ramses und Nefertari waren hier in die Geheimkulte des Osiris eingeweiht worden und bewahrten seit dieser Offenbarung in ihrem Innersten die Zuversicht auf ein Leben im Jenseits, die sie an ihr Volk weitergeben mußten.
An den Ufern des Kanals, der zur Anlegestelle führte, war weit und breit niemand zu sehen. Gewiß, in diesen heiligen Gefilden herrschte nur während der Feste, mit denen die Wiedergeburt Osiris’ gefeiert wurde, überschäumende Freude, dennoch waren die Reisenden von dieser Gleichgültigkeit und von der bedrückenden Stille, die über der Ankunft der königlichen Flotte lastete, befremdet.
Mit gezücktem Schwert verließ Serramanna als erster das Schiff, und alsbald umringte ihn die Leibgarde des Pharaos.
«Das gefällt mir nicht», murmelte der Sarde.
Dann betrat Ramses den Landungssteg. In der Ferne, hinter Akazien verborgen, lag der Osiris-Tempel.
«Geh kein Wagnis ein», empfahl Serramanna. «Laß mich zuerst die Gegend erkunden.»
Aufruhr in Abydos? An einen solchen Frevel mochte der König nicht glauben.
«Holt die Wagen!» befahl er. «Ich übernehme die Führung.»
«Aber Majestät…»
Serramanna begriff, daß es sinnlos war, ihn davon abbringen zu wollen. Wie sollte er nur die Sicherheit eines Herrschers gewährleisten, der so wenig Vernunft walten ließ?
Mit hoher Geschwindigkeit legte der Streitwagen des Königs die Entfernung zwischen der Anlegestelle und der Umfassungsmauer des Tempels zurück. Zu Ramses’ großer Überraschung stand das erste Portal offen. Er stieg ab und begab sich zu Fuß in den nicht überdachten Hof.
An der Fassade des Tempels ragten Baugerüste auf. Eine Statue seines Vaters in Gestalt des Osiris lag noch auf dem Boden, zwischen allerlei Werkzeugen, doch kein Handwerker war an der Arbeit.
Fassungslos betrat der Pharao das Heiligtum. Keine Opfergaben auf den Altären, kein Priester, der seine Gebete sprach.
Der verwahrloste Zustand des Tempels war offensichtlich.
Ramses ging wieder hinaus und rief Serramanna, der reglos am Eingang verharrte.
«Schaffe mir auf der Stelle die für diese Baustätte Verantwortlichen herbei!»
Beruhigt eilte der Sarde davon.
Der Zorn des Königs stieg bis zum klaren Himmel über Abydos empor.
Im großen Hof des Tempels hatten sich Priester, Beamte, Handwerker und alle anderen versammelt, denen der Erhalt des Heiligtums oblag und die dafür zu sorgen hatten, daß das Leben hier in geregelten Bahnen verlief. Gemeinsam knieten sie nieder und verneigten sich, bis ihre Nasen den Boden berührten. Die dröhnende Stimme des Herrschers, der ihre Faulheit und ihre Nachlässigkeit tadelte, versetzte sie in Angst und Schrecken.
Ramses ließ keinerlei Entschuldigung gelten. Wie hatten die für Abydos Zuständigen sich nur so schändlich benehmen und dann noch behaupten können, Sethos’ Tod habe ihre Tatkraft gelähmt? Bestand nicht die Gefahr, daß sie fortan schon beim geringsten Anlaß die Ordnung mißachteten und sich der Trägheit hingaben und keiner mehr daran dachte, seine Pflichten zu erfüllen?
Ein jeder befürchtete schwere Strafen, doch der junge Pharao forderte nur, die Opfergaben für Sethos’ Ka zu verdoppeln. Darüber hinaus befahl er, einen Obstgarten anzulegen, Bäume zu pflanzen, die Türen zu vergolden, den Bau des Tempels fortzuführen, die Statuen zu vollenden und jeden Tag die Riten zu vollziehen. Dann verkündete er, daß eine neue Barke für die Feier der Osiris-Mysterien gebaut werde. Und unter der Bedingung, daß der Tempel nie wieder auf diese Weise vernachlässigt wurde, sollten die Bauern, die seine Felder bestellten, von ihren Abgaben befreit und dem Heiligtum selbst Reichtümer in großer Zahl zuteil werden.
In allgemeinem Schweigen leerte sich der Hof wieder. Draußen beglückwünschte man einander zur Milde des Königs und gelobte, nie mehr seinen Grimm zu erregen.
Besänftigt trat Ramses in die im Herzen des Tempels gelegene Kapelle ein, in den «Himmel» von Abydos, in dem ein geheimnisvolles Licht die Finsternis erhellte. Dort hielt er mit der Seele seines Vaters Zwiesprache, die sich mit den Gestirnen vereinte, indes die Sonnenbarke ihre ewige Reise fortsetzte.
SECHSUNDZWANZIG
CHENAR FROHLOCKTE. Zugegeben, der in Ramses’ Schlafgemach hineingeschmuggelte Skorpion hatte seinen Zweck verfehlt. Allmählich glaubte der ältere
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