Der Tempel der vier Winde - 8
könnt Euer Leben aufs Spiel setzen und etwas tun, das sich lohnt getan zu werden.«
Sie zitterte unter dem kräftigen Zugriff seines Armes. »Ich … ich habe Angst.«
Seine tiefblauen Augen wurden sanfter. »Clarissa, würde es trösten, wenn ich Euch gestehe, daß ich ebenfalls ganz fürchterliche Angst habe?«
»Wirklich? Ihr wirkt so selbstsicher.«
»Sicher weiß ich nur eins: wie ich versuchen kann zu helfen. Und jetzt müssen wir in eure Archive gehen, bevor diese Kerle die Bücher zu Gesicht bekommen.«
Clarissa drehte sich um, froh über die Ausrede, sich seinem Blick zu entziehen. »Hier hinunter. Ich zeige Euch den Weg.«
Sie führte ihn die steinerne Wendeltreppe an der Rückseite des Zimmers hinunter. Die wurde nicht oft benutzt, weil sie schmal und beschwerlich zu begehen war. Der Prophet, der die Abtei entworfen hatte, war ein zierlicher Mann gewesen und hatte die Treppe seinen Bedürfnissen entsprechend angelegt. Daher war sie so schmal, daß sie sich nicht vorstellen konnte, wie dieser Prophet es schaffte, sie hinunterzusteigen. Aber es gelang ihm.
Auf dem dunklen Absatz unten entzündete er eine kleine Flamme in seiner Hand. Clarissa blieb erstaunt stehen und fragte sich, wieso er sich nicht die Hand versengte. Er drängte sie weiterzugehen. Eine niedrige Holztür führte zu einem kurzen Flur. Die Treppe in dessen Mitte führte weiter nach unten in die Archive. Durch die Tür am Ende des Flures kam man in den Hauptsaal der Abtei. Hinter dieser Tür wurden in diesem Augenblick Menschen ermordet.
Sie stieg die Treppe hinunter und nahm bei jedem Schritt zwei Stufen. Nathan bekam ihren Arm zu fassen, als sie ausrutschte, und verhinderte so, daß sie stürzte. Dies sei nicht die Gefahr, vor der er sie gewarnt hatte, scherzte er.
Unten in dem dunklen Raum streckte er eine Hand aus, und plötzlich entzündeten sich die an hölzernen Stützpfeilern hängenden Lampen. Die Stirn in Falten gelegt, ließ er den Blick prüfend über die Regale wandern, die die Wände des Raumes säumten. Zwei robuste Tische boten Platz zum Lesen und Schreiben.
Während er zu den Regalen links hinüberging, versuchte sie sich verzweifelt einen Ort zu überlegen, an dem sie sich vor den Soldaten der Imperialen Ordnung verbergen konnte. Irgendein Versteck mußte es doch geben. Früher oder später würden die Eroberer gewiß wieder abziehen, dann konnte sie wieder hervorkommen und wäre gerettet.
Sie fürchtete sich vor dem Propheten. Er erwartete etwas von ihr. Sie wußte nicht, was, bezweifelte jedoch, daß sie den Mut aufbringen würde, es zu tun. Sie wollte nichts weiter als ihre Ruhe.
Der Prophet schlenderte an den Regalen vorbei, blieb mal hier, mal dort stehen, um einen Band herauszunehmen. Er schlug die Bücher nicht auf, die er herauszog, sondern warf sie alle in der Mitte des Raumes auf den Boden und trat weiter zum nächsten Regal. Sämtliche Bücher, die er herauszog, enthielten Prophezeiungen. Er wählte längst nicht alle Bücher mit Prophezeiungen aus, aber die, die er herauszog, enthielten allesamt Prophezeiungen.
»Wieso ich?« fragte sie ihn, während sie ihm zusah. »Warum wollt Ihr gerade mich?«
Er hielt inne, den Finger auf einen schweren, in Leder gebundenen Band gelegt. Während er das Buch herauszog, sah er sie an wie ein Habicht eine Maus. Er trug es zu dem Haufen aus acht oder zehn Büchern hinüber, die bereits auf dem Fußboden lagen, legte es hin und nahm eins der anderen in die Hand.
Schließlich blieb er vor ihr stehen und blätterte darin.
»Hier. Lest das.«
Sie hob das schwere Buch aus seinen Händen und las die Stelle, auf die er zeigte:
Wenn sie aus freien Stücken geht, dann wird die Beringte in der Lage sein, das zu berühren, das lange nur den Winden allein anvertraut war.
Das lange nur den Winden allein anvertraut war. Die Unverständlichkeit der Worte weckte in ihr den Wunsch davon zurennen.
»Die Beringte«, sagte sie. »Bin ich damit gemeint?«
»Wenn Ihr Euch entscheidet, aus freien Stücken zu gehen.«
»Und wenn ich mich entscheide, hierzubleiben und mich zu verstecken? Was dann?«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Dann werde ich mir eine andere Frau suchen, die fliehen will. Ich habe Euch dieses Angebot zuerst gemacht, weil ich meine Gründe dafür hatte. Außerdem könnt Ihr lesen. Es gibt mit Sicherheit noch andere, die lesen können. Wenn es sein muß, werde ich eine andere finden.«
»Was ist das, das die ›Beringte‹ berühren kann?«
Er riß ihr das Buch
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