Der Tempel zu Jerusalem
benahm sich nicht mehr wie ein Diener, sondern
wie der Leiter einer Bruderschaft, die alle lebendigen Kräfte in Israel aufsog
und drohte, sie zu ihrem eigenen Nutzen umzuleiten. Nur ein Kleinfürst hätte es
geduldet, daß sein Thron so ins Wackeln geriet. Trotz seines Hasses
argumentierte Zadok richtig. Wenn David darauf verzichtet hatte, den Tempel zu
bauen, dann doch wohl aufgrund der unvermeidlichen Machtübernahme durch die
Arbeiter, die sich, von fähigen Lehrmeistern geleitet, ihrer Macht bewußt
wurden? Und dennoch war eine Veränderung Israels an das Entstehen des Gebäudes
geknüpft, an diese riesige Baustelle, in die jeder Hebräer einbezogen war.
War der von
David eingeschlagene Weg nicht der weisere? Mußte sich Salomo nicht damit
begnügen, über das Heute zu herrschen und die Zukunft sich selbst zu
überlassen, die Tradition zu wahren, anstatt das Errungene zu gefährden? Was
hätte er jetzt um die Anwesenheit eines Vaters und Beraters gegeben… Aber da
war nur der tote Schatten eines stummen Zimmers, das noch die Spuren des
Todeskampfes trug.
Salomo wandte
sich an Gott. Er flehte mit der Besorgnis eines Kindes, das sich verlaufen hat
und sein Zuhause sucht, mit der Verzweiflung eines Bettlers, vor dem sich alle
Türen schließen.
Kurz vor
Tagesanbruch, als sich die Hänge bläulich-rot und golden färbten, sprach Gott
zu Salomo.
Er verhieß
ihm ein ausschlaggebendes Zeichen. Das erste Wesen, das ihm begegnete, würde
ihm die erhoffte Antwort geben. In diesem Augenblick würde er wissen, ob er den
Tempelbau aufgeben oder weiterführen sollte.
Israels König
trat aus dem Totenzimmer und schritt durch die verlassenen und kalten Flure des
alten Palastes. Die fehlende Sonne machte ihm nichts aus, er brannte darauf,
die Botschaft des Herrn in der Wolke zu erfahren. Würde dieses erste Wesen nun
Mensch, Tier, Regen oder Wind sein? Mußte er einen Stein oder den Staub der Straße
befragen, sich an einen Stummen oder an einen Vogel wenden?
Es zog Salomo
unwiderstehlich nach draußen. Er ging zwischen den beiden Wachposten durch, die
zu beiden Seiten der Treppe standen, die auf den Vorhof führte, und bemerkte
eine Gestalt, die aus den letzten Nachtschatten auftauchte und der königlichen
Residenz zustrebte.
Der
Ausschreitende trug einen Kasten, der sein Gesicht verdeckte.
Das war der,
den Jahwe ihm schickte.
Salomo lief
ihm entgegen.
Mitten auf dem Vorhof blieb
der Mann stehen und stellte den Kasten ab.
Salomo
erkannte ihn, obwohl seine Züge im Zwielicht undeutlich waren.
«Meister
Hiram…»
«Majestät,
ich bitte um eine Audienz.»
«Um diese
Stunde?»
«Ich habe den
Plan für die Gebäude fertiggestellt, die auf den Felsen gebaut werden sollen,
und ich muß sie dir unverzüglich zeigen.»
Der
Baumeister öffnete den Kasten und holte einen Papyrus von an die hundert Ellen
Länge heraus, den er auf dem Vorhof entrollte. Dabei ging er vorsichtig zu
Werk, damit sich die aneinandergehefteten Blätter auch ja glatt entfalteten.
Das Licht der
aufgehenden Sonne betonte die Handbewegungen des Oberbaumeisters noch und fiel
auf einen sehr genauen Plan. Im Inneren einer riesigen, rechteckigen
Umfassungsmauer, deren lange Seiten nicht parallel liefen, waren ein Palast
vorgesehen, ein Thronsaal, ein Säulensaal, eine Schatzkammer und ein prächtiger
Tempel. Jede Linie war mit ihren Proportionen gekennzeichnet. Jeder Teil des
Plans war durch Striche, die einen riesigen Stern bildeten, mit den anderen
Bauzeichnungen verbunden.
Salomo spürte
eine Harmonie, die klar und fest zugleich war wie die eines lebendigen Wesens,
dessen Seele man eher wahrnahm als den Leib. Die Zeichnungen hatten keinen
gemeinsamen Maßstab, waren ein schlichter Aufriß. Hier schlug ein geometrisches
Herz, dem menschliche Niedertracht gleichgültig war.
Gott hatte geantwortet.
Eine Stunde lang versenkte
sich Salomo ganz in den Bauplan. Er deutete ihn mit den Augen eines Herrschers,
übertrug die Linien in Stein, stellte sich das Volumen vor. War die Hand, die
diese Pracht geschaffen hatte, wirklich die eines Menschen? War Meister Hiram
nicht von dem Einen Gott inspiriert worden, auch wenn er nicht an Ihn glaubte?
Der
Baumeister gab keine Erklärungen, und Salomo ließ sich nicht dazu herab, welche
von ihm zu fordern. Er bestellte ihn zu Beginn der ersten Nachtwache in den
Palast.
Hiram kam zu
spät. Das Säubern der Werkzeuge und die Überprüfung der Baustelle hatten seine
Anwesenheit erfordert. Salomo ging nicht auf die
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