Der Tempel
rissen an unseren Fesseln, sodass unsere Arme weit ausgestreckt über dem breiten Altar lagen. Unsere Handgelenke waren völlig entblößt, sodass die Hände leicht vom Körper abgehackt werden konnten.
»Alberto«, sagte Renco leise.
»Ja.«
»Mein Freund, ehe wir sterben, möchte ich dich wissen lassen, dass es eine Ehre und eine Freude gewesen ist, dich gekannt zu haben. Was du für mein Volk getan hast, daran wird man sich viele Generationen lang erinnern. Ich danke dir.«
»Mein tapferer Freund«, erwiderte ich, »wenn es die Umstände erforderten, würde ich alles noch einmal genauso tun. Möge der Herr im Himmel mit dir sein.«
»Und mit dir«, entgegnete Renco. »Und mit dir.«
»Meine Herren«, sagte Hernando zu unseren Henkern. »Entfernt ihnen die Hände!«
Der Sargento und der Chanca hoben gleichzeitig ihre blitzenden Schwerter hoch über ihren Kopf.
»Wartet!«, rief da jemand auf einmal.
Einer der Konquistadoren rannte zum Altar. Er war älter als seine Kameraden, ein listiger, ergrauter alter Fuchs. Er lief direkt zu Renco.
Er hatte das Smaragdhalsband erspäht, das mein Gefährte umhängen hatte.
Rasch streifte der alte Soldat das Lederhalsband mit einem habgierigen Grinsen über Rencos Kopf.
»Vielen Dank, Wilder«, sagte er höhnisch, legte es sich selbst um den Hals und huschte zurück zum Portal.
Unsere beiden Henker blickten in Erwartung des Zeichens zu Hernando hinüber.
Aber merkwürdigerweise sah Hernando sie nicht an.
Er schaute auch nicht mehr auf Renco oder mich.
Mit weit offenem Mund starrte er nach rechts zum Tempel hinüber.
Ich fuhr herum, weil ich wissen wollte, was es da zu sehen gab.
»O mein Gott …«, flüsterte ich.
Einer der Rapas stand in der halb offenen Mündung des Portals und blickte neugierig auf die Menschenmenge.
Groß und bedrohlich, die mächtigen vorderen Gliedmaßen weit gespreizt, die Muskeln unter den Schultern gewölbt, wirkte er im Augenblick allerdings seltsam komisch, und zwar hauptsächlich deswegen, weil er etwas mit dem Maul festhielt.
Das Götzenbild.
Das echte Götzenbild.
Die große schwarze Katze, zuvor so entsetzenerregend und bösartig, sah jetzt aus wie ein bescheidener Retriever, der seinem Besitzer ein Stöckchen zurückbringt. Tatsächlich, der Rapa trug das Götzenbild einfach stumm im Maul, als ob er jemanden suchte, der es wieder befeuchtete und somit zum Singen brächte.
Hernando hatte lediglich Augen für die Katze – oder vielmehr für das Götzenbild, das sie zwischen den mächtigen Kiefern hielt. Ganz plötzlich sah er vom Rapa und dem Götzenbild in dessen Maul zu dem Götzenbild, das er selbst in Händen hielt, und von dort aus zu Renco und mir. Auf seinem Gesicht zeigte sich jähes Verständnis.
Er wusste es.
Er wusste, dass er getäuscht worden war.
Das Gesicht des großen Spaniers wurde rot vor Wut und er sah Renco und mich mit funkelndem Blick an.
» Tötet sie!«, brüllte er unseren Henkern zu. »Tötet sie auf der Stelle!«
***
In diesem Augenblick geschahen tausend Dinge gleichzeitig.
Unsere Henker hoben erneut die Schwerter, zielten jetzt auf unsere Hälse, holten weit aus und schwangen gerade die Klingen herab, da pfiff plötzlich etwas scharf und schneidend über mir durch die Luft.
Keinen Moment später bohrte sich mit einem mächtigen Klatschen ein Pfeil in die Nase meines Henkers und schleuderte ihn zu Boden! Eine üppige Blutfontäne spritzte explosionsartig aus seinem Gesicht.
Der Rapa im Portal andererseits – nachdem er sich die Menge auf der Lichtung betrachtet und ein weiteres leckeres Mahl aus Menschenfleisch gewittert hatte – ließ das Götzenbild fallen und sprang wild die ihm am nächsten stehenden Spanier an. Kaum einen Augenblick später kamen, einer nach dem anderen, die anderen elf Rapas aus dem Tempel gelaufen und stürzten sich auf die Soldaten.
Castino hatte den anderen Henker neben sich zu Boden stürzen sehen, von einem Pfeil getroffen, und kurz innegehalten, einen Ausdruck verblüffter Verständnislosigkeit auf dem Gesicht.
Ich wusste, was ihm durch den Kopf ging.
Wer hatte den Pfeil abgeschossen? Und von woher?
Doch er schien entschlossen, die Beantwortung dieser Frage auf später zu verschieben – wenn er Renco getötet hatte.
Rasch hob er die Klinge erneut und ließ sie mit entsetzlicher Kraft hinabsausen …
… da traf ein weiterer Pfeil den Knauf seines Schwerts und riss es ihm aus der Hand.
Sogleich zischte ein dritter Pfeil von irgendwo herab und
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