Der Tempelmord
Priesterin. Ich glaube nicht, daß ich deine Götter und Rituale verstehen werde. Ich will der Artemis opfern. Es erscheint mir sinnvoller, die Gnade der mächtigen Göttin anzurufen.« Der Grieche wandte sich ab und hatte schon die Tür erreicht, als er noch einmal stehenblieb. »Wer ist eigentlich die neue Favoritin des Herrschers?«
Potheinos hüstelte leise, dann warf er dem Eirenarkes einen verschwörerischen Blick zu. »Es gibt viele schöne Frauen in unserem Gefolge. Was uns vor allem von euch Griechen unterscheidet, ist, daß unsere Priesterinnen größere Freiheiten haben, was den Umgang mit Göttern angeht.«
Orestes bedachte Samu mit einem anzüglichen Blick. »Ich denke, ich habe Verstanden, was ihr mir sagen wolltet, Potheinos.«
Samu errötete. Dieser Bastard! Was sollte diese Lüge? Wollte der Eunuch sie vor dem Fremden demütigen? Warum hatte er sie zur Buhlin des Pharao gemacht? Sie würde sich das nicht einfach so bieten lassen! »Sagt, Orestes, wie kommt es, daß der Scheiterhaufen des Buphagos schon in der Nacht in Flammen aufgegangen ist? Sollte er nicht erst heute abend nach einer feierlichen Totenzeremonie entzündet werden?«
Der Eirenarkes räusperte sich wichtigtuerisch. »Es war der Wille der Götter. In der Nacht hat sich Thanatos der Priesterin offenbart, die mit der Totenwache beauftragt war! Der Gott selbst ist noch einmal gekommen, um nun auch den Leichnam an sich zu nehmen. Die Priesterin beobachtete, wie Thanatos den Toten zum Scheiterhaufen hinauftrug. Kaum hatte er euren Mundschenk niedergelegt, da fuhr aus den Sturmwolken ein Blitz hinab und entzündete das Holz. So waren es die Götter selbst, die entschieden haben, das Totenfest zu feiern.« Das Gesicht des Orestes war so ausdruckslos wie eine Maske. Samu hätte nur zu gerne gewußt, ob der Grieche das, was er erzählte, auch selbst glaubte.
»Jedenfalls«, so fuhr Orestes fort, »wird damit wieder Frieden in den Tempelbezirk einkehren. Dennoch bleibt das Verbot bestehen, daß Mitglieder des Hofstaates des Ptolemaios das Tempelgelände verlassen dürfen Es wird wohl noch ein paar Tage dauern, bis das Volk von Ephesos sich so weit beruhigt hat, daß ihr wieder völlig sicher seid.«
Samu verneigte sich leicht. »Es ist gut zu wissen, unter dem Schutz so aufrichtiger Dienerinnen der Göttin zu stehen. Mir selbst ist meine Herrin noch nie erschienen, doch sagt man euch Griechen ja nach, daß kein Volk seinen Göttern so nahe steht wie ihr.« Samu fragte sich, ob die Priesterin in der vergangenen Nacht Batis gesehen hatte und jetzt wirklich glaubte, dem Thanatos begegnet zu sein, oder ob sie diese Geschichte erfunden hatte, nachdem der Leichnam, den sie bewachen sollte, plötzlich verschwunden war.
Orestes hatte den ironischen Unterton ihrer Worte bemerkt.
Er wirkte verwirrt und schien nicht sicher zu sein, wie er darauf reagieren sollte. Er legte den Kopf schief und musterte Samu nachdenklich. Schließlich murmelte er leise: »Der Blick der Olympier ruht auf uns in diesen Tagen. Ich hoffe, daß sie keinen Anlaß mehr haben werden, einen Frevel zu sühnen, und daß die Tage, die da kommen, friedlicher sein werden als jene, die vergangen sind.«
6. KAPITEL
Z wei Tage waren seit dem Tod der Hetaire vergangen. Die Lage bei Hof hatte sich entspannt, und es schien, als sei der Zorn der Göttin verflogen. Philippos war noch einmal in das Zimmer von Buphagos zurückgekehrt und hatte dort die versteckte Papyrusrolle geholt, denn er brauchte Schreibmaterial, und das war teuer.
Den Spiegel, den Schmuck und die anderen Schätze der Thais hatte Potheinos mit großer Geste der kleinen Kleopatra geschenkt. Der Eunuch dachte an seine Zukunft. Ptolemaios wurde seit dem Tod der Hetaire von Verstopfung geplagt. Der König wurde immer dicker, und seine Gesundheit war alles andere als gut. Es war nur eine Frage von Zeit, bis Thanatos auch ihn besuchen würde. Wahrscheinlich war er sich darüber im klaren. Jedenfalls hatte Ptolemaios in den letzten Tagen ungewöhnlich viel Zeit mit Kleopatra verbracht. Samu gegenüber blieb der Herrscher mißtrauisch. Philippos wußte, daß die Priesterin dem Pharao mehrfach angeboten hatte, ihm einen abführenden Trunk zu mischen, doch der König hatte abgelehnt. Er legte sein Wohl ganz in die Hände des Arztes, und Philippos war so zufrieden wie schon lange nicht mehr.
Wenn der König immer kränker wurde, dann würde die Bedeutung seines Leibarztes bei Hof schlagartig zunehmen. In Gedanken sah er
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