Der Teufel in dir: Thriller (German Edition)
bedeuteten, waren die für ihre Mutter und ihren Bruder. Zwischen dem Tod der beiden lagen etwa zehn Jahre, aber die Wunden waren noch immer frisch. Jessica blickte eine Zeit lang auf die Karten und dachte an die beiden Beerdigungen zurück. Sie war fünf Jahre alt gewesen, als ihre Mutter zu Grabe getragen worden war. In der Kirche drängten sich Angehörige und Freunde; es sah beinahe so aus, als wäre die Hälfte des Philadelphia Police Departments erschienen.
Bei der Beerdigung ihres Bruders war es anders gewesen. Er war 1991 in Kuwait gefallen, und an jenem Tag strömten nicht nur Freunde und Verwandte, sondern auch Angehörige sämtlicher Truppengattung der Army in die St. Pauls Church.
Jessica hielt die beiden Karten fest, kochte sich eine Tasse Kamillentee und ging damit ins Wohnzimmer. Sie ließ sich in den großen Relaxsessel sinken und legte eine Decke über ihre Beine.
Manchmal ist es gut, wenn es wehtut, dachte sie.
Wenn es nicht mehr wehtat, begann man zu vergessen. Und das wollte sie nicht.
Niemals.
36.
Michelle Calvin versuchte sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal in einer Kirche gewesen war. Bei der Hochzeit ihrer Schwester? Nein, seitdem war sie noch einmal in einer Kirche gewesen, oder? Aber wann? Sie erinnerte sich nicht.
Michelle war in Savannah, Georgia, aufgewachsen und als Kind jeden Sonntag in die heiße, stickige Kirche in der Margery Street geschleppt worden. Mit siebzehn war sie von zu Hause abgehauen und nie zurückgekehrt. Von da an tat sie sonntags nichts anderes mehr, als sich von den langen Samstagnächten zu erholen.
Auf einmal fiel es ihr ein. Zum letzten Mal war sie vor vier Jahren in einer Kirche gewesen, zur Beerdigung ihrer Großmutter. Die Trauerfeier hatte in der St. Gregory Church stattgefunden, und es waren nur sehr wenige Leute gekommen. Ihre Großmutter hatte nicht viele Freunde. Oma Rita hatte – wie man zu ihrer Zeit sagte – einen lockeren Lebenswandel. Drei Ehemänner und so viele Beziehungen, dass sie sich kaum noch an alle erinnerte; außerdem eine Schwäche für Whiskey und eine nicht gerade puritanische Einstellung, wenn es um Sex auf der Rückbank eines Autos ging.
Es stellte sich heraus, dass Michelle in vieler Hinsicht ganz nach ihrer Oma kam.
Aber das war lange her.
Seitdem Michelle als Immobilienmaklerin arbeitete und eine große Karriere vor ihr lag, hatte sich alles geändert. Als sie ihr Leben vor drei Jahren völlig umgekrempelt hatte, war sie sechsundzwanzig Jahre alt gewesen. Sie war einmal zu viel mit dem Gesetz in Konflikt geraten; das führte unter anderem zu einer kurzen Haftstrafe und zwei Jahren bei den Anonymen Alkoholikern. Zum Glück kriegte sie schließlich doch noch die Kurve. Beinahe hätte sie ihre einzige Tochter verloren, konnte das Gericht aber davon überzeugen, dass sie ihr ausschweifendes Leben aufgegeben hatte. Deshalb erhielt sie die Vormundschaft.
Ihr Job – die Sicherheit, die Anerkennung, die Garantie, nun ein besseres Leben führen zu können – bedeutete Michelle Calvin alles. Sie war auf dem Weg nach oben, und nichts und niemand konnte sie aufhalten.
Sie gab den Code auf der Tastatur der Metallbox ein, nahm die Schlüssel heraus und schloss die Seitentür auf. Vor ihr lag ein kurzer Flur mit zwei Türen auf der rechten Seite. Das Gebäude war alt, und der muffige Geruch deutete darauf hin, dass es schon längere Zeit leer stand. Michelle betrat den großen Raum, in dem früher wahrscheinlich die Gottesdienste abgehalten wurden.
Michelle hatte nicht alle Informationen über die Immobilie durchgelesen, vermutete aber, dass dieses Gebäude einst als Kapelle genutzt worden war. Als das benachbarte alte Krankenhaus abgerissen wurde, hatte man dieses Haus stehen lassen. In den letzten Jahren hatte die Erzdiözese es nur noch als Lagerraum genutzt, nicht mehr als Gotteshaus, um es dann an eine Firma mit Sitz in Cincinnati, Ohio, zu verkaufen. Und diese Firma versuchte nun ihrerseits, den alten Bau loszuwerden.
Michelle schaute auf die Uhr. Vor zehn Minuten hatte die Interessentin, mit der sie verabredet war, hier sein wollen. Sie beschloss, noch mal zehn Minuten zu warten und die Frau dann anzurufen.
Als sie ihr BlackBerry aus der Tasche zog, hörte sie ein Geräusch hinter sich. Sie fuhr herum und sah eine Frau, die sich offenbar lautlos herangeschlichen hatte. Es war die Interessentin. Irgendwie kam sie Michelle bekannt vor, aber sie konnte sie nirgends unterbringen. Es würde ihr schon wieder
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