Der Teufel in Frankreich
andern dazwischentreten.
Ich weiß nicht, ob der Tierstimmenimitator seinen Verstand noch ganz beisammen hatte. Viele von den Internierten hatten während der bittern Jahre des Exils und insbesondere während dieses ersten Kriegsjahres einen Knacks abbekommen.
Da war etwa in der Krankenbaracke ein gebildeter Herr von guten Manieren. Während der Stunden, da die Leichtkranken im Hof spazierengehen durften, machte er sich an mich heran und erzählte mir sein Sonderschicksal. Er hatte seit langen Jahren als Sportlehrer in einem der eleganten Kurorte der Riviera gelebt. Er hatte sich durchaus als Franzose gefühlt, es aber aus Schlamperei verabsäumt, sich naturalisieren zu lassen. Als er nun, so erzählte er mir, das erste Mal interniert wurde, habe er einen schweren Schock bekommen, und man habe ihn in die Militärirrenanstalt nach Marseille überführt. Von dort entlassen, sei er in die Krankenbaracke von Les Milles gebracht worden. Nun aber eigne ihm eine besondere Fähigkeit: er rieche es einem Menschen sogleich an, was er in Wirklichkeit sei, er rieche ihm sein Inneres an. Da habe er denn auch damals in der Krankenbaracke sehr bald entdeckt, daß unter den dreißig Insassen nicht weniger als acht Nazis seien. Er habe sich sogleich beim Kommandanten melden lassen und ihm mitgeteilt: »Herr Kapitän, unter uns sind acht Nazis.« Der Kapitän habe darauf nur erwidert: »Marsch, zurück in die Irrenanstalt.« Jetzt, bei der neuen Internierung, hätten ihn die Ärzte gleich bei seiner Ankunft in die Krankenbaracke gesteckt. Nun habe er auch diesmal dort Nazis herausgewittert, und zwar vier. Wenn er das indes dem Hauptmann mitteile, dann schicke ihn dieser bestimmt wieder nach Marseille in die Irrenanstalt. »Wie wäre es?« fragte er mich. »Wollen nicht Sie sich beim Hauptmann melden lassen und ihn auf die vier Nazis aufmerksam machen?«
Es war dann ferner unter uns ein älterer österreichischer Gelehrter, er hatte an der Wiener Volkshochschule doziert. Er war ein schrecklich häßlicher Mensch, wohl der häßlichste, dem ich je begegnet bin. Er war ausgemergelt, ging gekrümmt herum, die riesigen Arme hingen ihm herunter, was ihm etwas Affenartiges verlieh. Er hatte einen wirren, wilden Bart, sein Gesicht war knochig, er trug eine Brille. Er war unendlich schmutzig. Er schmatzte, er kaute immerzu an etwas herum; wenn er nicht aß, hing ihm der untere Kiefer weit herunter. Unsteten Ganges lief und hüpfte er herum; im ganzen erinnerte er doch mehr an einen alten, räudigen Vogel als an einen Affen. Er war keineswegs dumm, er sagte manchmal überraschend Gescheites, doch er hatte alle Maße verloren und jeden Sinn für die Wirklichkeit. Wahrscheinlich hatten ihn die Torturen, denen er von den Nazis in ihren Konzentrationslagern unterworfen worden war, aus dem Gleichgewicht gebracht. Er war äußerst gelehrt, wußte Bescheid über alle erdenklichen Dinge, er war ein wandelndes Lexikon. Er hatte tausend Details meiner Bücher im Kopf, die mir längst entfallen waren. Seine Stimme war schön, doch ein bißchen ölig, und ging einem auf die Dauer auf die Nerven. Er liebte es, zu dozieren, er sprach lange, druckreife Sätze. Er mischte sich in jede Unterhaltung, häufig störend. Er streckte dann auf lauschende Art das große Ohr vor und äußerte irgend etwas Druckreifes, Gelehrtes, nicht zur Sache Gehöriges. Er fühlte sich offenbar ein bißchen als Sokrates, der unter der Menge herumging, jeden befragend, sich selber und die andern belehrend. Er hielt seine Gespräche für das Zentrum aller Dinge. Er deutete auf irgendeinen Platz in der Nähe der Latrinen, und: »Hier«, sagte er, an einem Stück Brot herumkauend, »hier begann ich am 6. Februar nachmittags um fünf Uhr das denkwürdige Gespräch mit Professor K. über die Ausläufer der Leibnizschen Nomadenlehre in unserer Zeit.« Unter allen Bewohnern der Ziegelei in Les Milles war wahrscheinlich er der glücklichste. Hier im Lager hatte er Publikum, viele hörten ihm gerne zu, oft stand ein Kreis um ihn. Es störte ihn nicht, nein, es war ihm recht, wenn man ihn als Clown nahm. Wenn man ihm nur zuhörte, wenn man sich nur mit ihm abgab. So kannte er denn keine schlimmere Furcht, als daß dieses gute Dasein im Lager aufhören könne. Schon nach seiner ersten Internierung zu Beginn des Krieges hatte er das Lager durchaus nicht verlassen wollen. Die Soldaten hatten ihn mit Gewalt auf die Straße bringen müssen. Dann hatten sie ihm unter Späßen sein Bündel auf dem
Weitere Kostenlose Bücher