Der Teufel in Frankreich
aneinandergedrängt, in Wellen, mit der Bewegung des Zuges. Die Flüche in der Dunkelheit, wenn einer den andern getreten hatte, mehrten sich. Auch Bitten kamen aus der Dunkelheit, Bitten des einen zum andern, flehentliche, gereizte, doch ein wenig, nur ein klein wenig zu rücken.
Aber dann wurde es Morgen. Grauer, nebliger Tag kam durch die Luken und hob die ganze Erbärmlichkeit dieser Fuhre Mensch ins Licht. Doch die einfache Tatsache, daß es hell wurde, machte den Schrecken geringer. Ja, trotz aller Erschöpfung und Qual fühlte man sich im Grunde wohl. So relativ sind Behagen und Elend.
Und es wurde ganz hell, und wir hielten an einer Station. Die Türen wurden auseinandergeschoben. Mit steifen Gliedern krochen wir heraus. Freilich gab es nur Schienen und Steine, sich irgendwo hinlegen konnte man nicht, auch war es reichlich kalt. Aber man konnte seine Notdurft verrichten. Mehr als das, es gab Wasser, man konnte sich waschen, man konnte trinken. Und ferner konnte man sich strecken, man konnte die Arme kreisen und die Beine werfen, man konnte sich irgendwo hinsetzen. Und dann kam sogar ein bißchen Sonne. Jetzt war die üble Nacht vergessen. Nichts mehr war da als das frohe Gefühl, daß man fort war aus Les Milles und daß die Hitler-Truppen fern waren, jenseits der Rhône.
Man tauschte Gefühle aus und Gedanken, Freuden und Sorgen. Die Hauptfrage blieb: wohin fahren wir eigentlich? Niemand wußte es. Die Offiziere erklärten, sie wüßten es selbst nicht. Der Lokomotivführer wußte, daß er den Zug nach Toulouse zu führen hatte; dann, sagte er, werde er durch einen andern ersetzt wer- den.
Es ergab sich, daß wir in der Hafenstadt Sète waren. Man erwog den Gedanken, durchzubrennen; vielleicht fand sich in Sète ein Schiff. Die Wachmannschaften erzählten, es lägen dort zwei große Schiffe, bestimmt für jene Engländer, die jetzt nach Frankreichs Zusammenbruch in ihre Heimat zurückkehrten. Vielleicht nahmen diese englischen Schiffe auch einige von uns mit.
Doch schon während man das erwog, wußte man, daß Projekte solcher Art reine Phantasterei waren. Es wäre Wahnsinn gewesen, auf die nebelige Hoffnung hin, ein englisches Schiff werde uns aufnehmen, das Transportmittel aufzugeben, das man hatte, unsern Zug. In diesem Zug, so elend er war, waren wir vorläufig wenigstens in Sicherheit. Es blieben denn auch alle.
Die Sonne wurde wärmer. Wir aßen von unsern Konserven, von unserm Brot, es gab Trinkwasser, wir konnten sitzen, wir lebten, wir freuten uns, daß wir lebten.
Aber dann mußten wir zurück in die Wagen, und die Freude verflog. Heute achteten die Offiziere darauf, daß die Wagen auch bei Tag geschlossen blieben, Luft und Licht kam nur durch die spärlichen Luken. Bis in jede üble Einzelheit wiederholte sich der Jammer von gestern. Wenn man sich noch so klein machte, nahm man dem Nachbarn Raum und Luft weg. Man war einander zur Qual.
Gestank war im Wagen. Zwei litten an Dysenterie. Es war ihnen ein Kübel in den Wagen gestellt worden. Böse schauten sie um sich, böse wurden sie von den andern angeschaut.
Denn wir andern konnten natürlich unsere Notdurft nicht im Innern des Wagens verrichten. Wir mußten warten, bis der Zug irgendwo hielt. Er hielt fast immer auf offener Strecke. Dann kletterte man hinaus, oder, wenn man geübt war, sprang man hinaus; ich habe schon gesagt, daß die Gestelle der Wagen sehr hoch waren und daß es keine Treppen gab. Draußen dann standen oder hockten die Männer an den Geleisen und verrichteten ihre Notdurft. Niemals aber wußte man, wann der Zug wieder anfahren werde. Manchmal, unvermutet, fuhr er schon nach Sekunden wieder an. Auf dann schnellten die Hockenden und liefen dem Zuge nach. Alte waren unter uns, sie liefen erbärmlich, grotesk, sich die Hosen haltend, in großer Angst. Sie rannten, sie versuchten mühselig, das hohe Gestell ihres Wagens zu erklettern. Der eine oder andere geriet wohl auch an einen falschen Wagen. Die Insassen schlugen ihm auf die Hände, ihn fortzuscheuchen; denn der Wagen war voll, es ging wirklich keiner mehr herein. Er aber mußte hinein: was wurde aus ihm, wenn er zurückblieb?
Es war unter uns auch ein orthodoxer Jude, der an seinen Bräuchen festhielt. Mitten in der höllischen Enge und dem scheußlichen Lärm des ratternden Zuges holte er Gebetmantel und Gebetriemen heraus, erkundigte sich, wo der Osten sei, Jerusalem, der Tempel, stellte sich mit dem Gesicht nach Osten, verrichtete seine Gebete.
So fuhren wir und
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