Der Teufel in Frankreich
aneinandergedrängt in der großen Türöffnung, nicht abgehalten von dem nie aufhörenden Regen, und ließen die Beine hinaushängen. Wir begegneten Zügen, die so endlos waren wie unser eigener, und endlose Züge überholten uns. Alle diese Züge waren vollgestopft mit Menschen. Sie hockten auf den Trittbrettern, sie lagen gefährdet auf den Dächern. Ganz Frankreich war in Bewegung. Ganz Frankreich floh, sinnlos, hierhin, dorthin. Nicht nur die Schienenwege, auch die Landstraßen Südfrankreichs waren überflutet von Menschen, Holländer, Belgier, Millionen von Nordfranzosen waren auf der Flucht. Im strömenden Regen zogen sie die Straßen entlang, endlos, der spanischen Grenze zu.
Und was hatte man mit uns vor? Heftige Diskussionen entbrannten in unserm Zug. Was früher eine leise Möglichkeit gewesen war, wurde jetzt beinahe zur Gewißheit: man wollte uns übers Meer verfrachten, nach den Kolonien, nach Marokko vielleicht oder auch tiefer nach dem Süden, nach Dakar. Vielen war das recht. Viele sagten, das sei die einzige Sicherheit vor den Hitler-Leuten, und sie waren gerne bereit, den Franzosen zu verzeihen, was sie Böses an uns getan hatten, wenn sie uns wirklich zum guten Ende solche Sicherheit verschaffen sollten. Viele aber auch sträubten sich gegen eine solche Verschiffung, ja, sie waren empört. Nein, sie wollten sich nicht übers Meer bringen lassen. Sie wollten nicht getrennt werden von ihren Weibern und Kindern, auf lange Zeit, vielleicht für immer, sie wollten sich nicht ins durchaus Ungewisse schicken lassen.
Zudem kamen aus den Waggons der Fremdenlegionäre üble Geschichten über solche Transporte zur See. Man wurde da im Kielraum irgendeines alten Kastens verstaut. Dort unten lag man in drangvoller Enge, es war dunkel und stank, alles war voll von Ratten und Ungeziefer, man lag halb im Wasser, und wer im leisesten dazu neigte, wurde seekrank. In unserm besonderen Fall kam dazu das ständige Bewußtsein der Gefahr. Denn bei einer solchen Seereise mußte man damit rechnen, von einem italienischen Kriegsschiff oder Flugzeug gesichtet und bombardiert zu werden. Was es heißt, in der Dunkelheit auf dergleichen zu warten, hilflos eingesperrt, das wußten wir aus unsern Erfahrungen in Les Milles während der Bombardements. Nein, eine solche Seereise wird kein Spaß sein. Niemals, unter keinen Umständen, erklärten viele, würden sie sich verschicken lassen. Lieber würden sie ausreißen, lieber würden sie Hitler in die Hände fallen.
Schon waren wir ganz nahe an der Stadt Bayonne. Schon rochen wir das Meer, schon spürten wir die Luft des Atlantischen Ozeans, und siehe, da waren auch Masten und Schiffe.
Der Zug hielt außerhalb der Station. Die Landstraße führte das Bahngeleise entlang, führte unsern Zug entlang, durch ein niedriges Geländer von ihm getrennt. Ich konnte mein Aug und mein Hirn nicht losreißen von dem Anblick dieser Landstraße, von dem Anblick der wüsten, heillos verknäuelten Prozession, die sich über diese Landstraße bewegte. Es waren da Fahrzeuge jeder Art, vom ältesten Handkarren bis zum modernsten Auto, bepackt alles, ungeheuerlich bepackt alles und vollgestopft, Matratzen überall auf dem Verdeck der Autos, wahrscheinlich zum Schutz gegen Fliegerangriffe. Und zwischen diesen Fahrzeugen drängten sich Pferde, Radfahrer, Maultiere, Fußgänger, alle der nahen spanischen Grenze zustrebend.
Unser Zug hielt lange. Endlich fuhr er wieder an. Fuhr zum Hauptbahnhof. Die Spannung stieg. Ging es jetzt aufs Schiff? Wieder standen wir endlos. Wir wurden nicht ausgeladen.
Dann fuhr der Zug zurück, wieder dem Stadtbahnhof Bayonne zu.
Der Zug hielt an der gleichen Stelle, an der er vorher gehalten hatte. Über die Landstraße zog wie vorher die Prozession der Fliehenden. In unserm Wagen debattierte man heftig. Diejenigen, die nicht aufs Schiff wollten, fanden schwerlich je eine bessere Gelegenheit durchzubrennen als heute, jetzt.
Während wir so standen und warteten, kam zu mir jener ruhige Herr mit dem Knabengesicht, der Organisator. Er sagte: »Hören Sie, Sie müssen sogleich zum Kommandanten. Es heißt, daß die Hitler-Truppen in zwei Stunden hier sein werden.«
Ich starrte ihn an. Wie sollten die Nazis auf einmal nach Bayonne kommen? War er einem der albernen Gerüchte aufgesessen, die jetzt das Land durchflogen? Aber er war ein ernster Mensch, ohne Hysterie. Und in den Zeitungen hatte es geheißen, die Deutschen seien nicht weiter ins Rhônetal vorgedrungen, sie
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