Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
über das leblose braune Bündel. „Diesmal haben wir keine Kleidungsreste, die uns eine zeitliche Einordnung erleichtern würden“, fuhr Gutenberg fort. „Es handelt sich um ein Neugeborenes, soviel konnte ich feststellen. Einen Jungen, um genau zu sein. Er wurde nicht älter als ein paar Tage. Vermutlich hat er fünf Jahre im Gletscher gelegen, bis das Schmelzwasser ihn aus dem Eis spülte, aber es könnten auch mehr sein. Das Entscheidende ist“, er fixierte Erik über den Rand seiner Brille hinweg, „dass dieses Kind überhaupt im Gletscher gelegen hat. Stimmen Sie mir zu?“
Erik antwortete nicht. Er fühlte sich müde und verwirrt.
„Denn hier kommt die alles entscheidende Frage, Herr Strauss: Wie kommt das Kind in den Gletscher?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Erik.
„Aha! Sie wissen es nicht!“ Gutenberg schob seine Brille höher. „Da sind Sie nicht allein, Herr Strauss. Wenn eine erwachsene Frau beschließt, auf den Gletscher zu spazieren und sich mitsamt ihrem Baby in eine Spalte zu stürzen, dann ist das eine Sache. Wenn aber ein Säugling alleine auf den Gletscher spaziert und beschließt, sich in eine Spalte zu stürzen, wirft das ganz andere Fragen auf. Denn Säuglinge spazieren nicht auf Gletscher. Niemals. Und das wiederum lässt nur eine Schlussfolgerung zu.“ Gutenberg sah Erik erwartungsvoll an.
Erik senkte den Blick, und wieder fanden seine Augen das kleine Bündel unter dem Leinentuch. „Jemand hat das Kind in eine Spalte geworfen“, sagte er tonlos.
„Richtig!“, rief Gutenberg. „Jemand hat das Kind in eine Spalte geworfen!“
„Aber warum ...“
„Warum! Eine gute Frage! Warum sollte jemand ein Neugeborenes in eine verdammte Gletscherspalte werfen?“ Gutenberg atmete tief durch. „Es gibt viele Gründe dafür. Vielleicht war es ein uneheliches Kind, die unerwünschte Frucht einer leidenschaftlichen, gedankenlosen Nacht, und jemand wollte sich und seiner Familie die Schande ersparen. Vielleicht war das Kind das Ergebnis einer Vergewaltigung, das war im Krieg an der Tagesordnung, obwohl es hier in der Gegend eher beschaulich zuging. Vielleicht war auch Inzest im Spiel, auf dem Land ist das keine Seltenheit.“ Gutenberg wischte sich mit der Hand über den Mund. Erik sah, dass die Hand zitterte.
Karl Wagner ergriff das Wort. „Sehen Sie, Herr Strauss, es gibt für jedes Verbrechen Tausende von möglichen Motiven, und man kann versuchen, sie alle zu überprüfen. Oft ist der offensichtliche Grund des Rätsels Lösung, aber manchmal ist der wahre Grund so absurd, dass man nicht einmal im Traum darauf gekommen wäre. Warum jemand ein Neugeborenes in eine Gletscherspalte werfen sollte, liegt außerhalb meiner Vorstellungskraft. Es gibt schnellere und effizientere Wege, ein Kind zu töten, und auch, es zu beseitigen. Denken Sie nicht?“
„Vermutlich schon“, sagte Erik mit rauer Stimme.
„Viel interessanter als die Suche nach dem Warum ist doch die folgende Frage: Wie wahrscheinlich ist es, dass der Gletscher innerhalb von vier Jahren drei Leichen freigibt, darunter die Leichen zweier Säuglinge?“
Erik schluckte. „Vielleicht ist es nur ein Zufall.“
„Aha, ein Zufall“, sagte Gutenberg. „Möglich. Ich selbst tendiere zu einer anderen Schlussfolgerung.“
„Und die wäre?“
„Ich denke, dass ich in den kommenden Jahren alle Hände voll zu tun haben werde. Ich denke, dass der Gletscher uns noch einiges zu zeigen hat. Er ist noch nicht fertig, er hat gerade erst angefangen.“
„Ich verstehe nicht ganz“, sagte Erik leise. Aber er verstand sehr wohl. Er verstand es, und er fühlte die Angst kalt und schneidend nach seinem Herzen greifen.
„Sie verstehen nicht?“ Gutenberg rückte seine Brille zurecht. „Dann will ich es Ihnen erklären. Ich denke, dass dort oben etwas ganz und gar im Argen liegt. Ich denke, dass im dunklen alten Grimbold eine Menge Leichen darauf warten, endlich das Tageslicht wiederzusehen. Und das werden sie.“
Wenig später saßen Sie erneut an dem kleinen Tisch vor dem Kamin. Sie sprachen wenig. Eine nervöse innere Anspannung hatte von Erik Besitz ergriffen. Er trank seinen Weinbrand in großen Schlucken, und nach einer Weile klang die Anspannung zu einem dumpfen Summen ab.
„Der Weinbrand wird unsere Probleme nicht lösen, Herr Strauss“, sagte Gutenberg.
„Vielleicht hilft er mir dann wenigstens dabei, einzuschlafen.“
Gutenberg blickte lange ins Feuer, ehe er sich Erik erneut zuwandte. „Werden Sie tun,
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