Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
verteilte sie auf den Pulten. Dann setzte er sich wieder vor die Tafel. Er stellte sich vor, wie seine Schüler den Raum mit Leben füllen würden, und der Gedanke daran erfüllte ihn mit Leben. Das Gewicht, das er auf seinen Schultern zu spüren geglaubt hatte, schien mit einem Mal verschwunden. Erik schlug sein Deutschbuch auf und blätterte es gedankenverloren durch.
Plötzlich ließ ein Geräusch ihn hochschrecken. Noch bevor er aufblickte, wusste er, dass er nicht allein im Klassenraum war.
Erik sprang auf. Das Buch fiel vom Pult und knallte auf den Boden. Sein Puls raste, seine Augen suchten das Zimmer ab. „Wer ist da?“, rief er. Seine Stimme klang laut in dem kleinen Raum.
Dann hörte er das Geräusch wieder, das ihn aufgeschreckt hatte. Es klang wie ein unterdrücktes Kichern. Er sah über seine Schulter. Die Tür, die hinaus auf den Pfarrhof führte, stand offen. Ein kalter Luftzug streifte ihn, und die Härchen auf seinen Armen stellten sich auf.
Das Kichern erklang noch einmal.
„Wer ist da?“ Er bückte sich und hob das Schulbuch vom Boden auf. Er umklammerte es mit beiden Händen und wartete, bis das Kichern erneut ertönte. Diesmal achtete er genau darauf, aus welcher Richtung das Geräusch kam. Dann schleuderte er das Buch mit aller Kraft in den hinteren Bereich der rechten Pultreihe. Ein Schrei ertönte, und hinter dem letzten Pult tauchten zwei erhobene Arme auf. Zwischen den Armen erschien ein runder Kopf, auf dem ein zerzaustes Haarbüschel thronte wie ein Vogelnest. Erik stieß die angehaltene Luft aus. Er kannte den Jungen. Es handelte sich um Felix Sonnleitners zurückgebliebenen Sohn Albert.
„Nicht schießen“, sagte Albert und kicherte.
Erik ließ sich zurück auf den Stuhl sinken. „Albert!“
„Albert“, sagte der Junge und nickte.
Erik seufzte. „Nimm die Arme runter und komm her.“
Albert ließ die Arme sinken und blieb hinter seinem schützenden Pult stehen.
„Na komm schon, ich tu dir nichts. Komm her!“
„Nicht schießen“, sagte Albert noch einmal.
„Nein, nicht schießen. Ich werde nicht schießen. Jetzt komm schon her. Du hast mich erschreckt.“
Albert trat aus seiner Deckung und kam mit kleinen Schritten auf ihn zu. Etwa einen Meter vor dem Pult blieb er stehen. Ein unsicheres Grinsen hing schief in seinem Gesicht. Ein Speichelfaden baumelte an seinem Kinn.
„Wisch dir den Mund ab“, sagte Erik. „Na mach schon.“
Albert sah ihn verständnislos an.
„Na schön, komm her.“ Erik streckte die Hand aus, und Albert griff danach. Erik führte ihn an der Hand um das Pult herum, bis Albert neben ihm stand, und wischte den Speichelfaden mit seinem Taschentuch fort.
„Was machst du hier?“, fragte Erik.
„Schule!“, rief Albert und klatschte in die Hände.
Erik lächelte, aber dann dachte er plötzlich an Gutenbergs Worte, als dieser über Xaver Wredes Tochter Julia geredet hatte. Sie ist eine von ihnen , hörte er ihn sagen. Eine von ihnen.
„Bist du auch einer von ihnen?“, fragte er Albert leise.
Albert legte die Stirn in Falten.
Erik musterte das Gesicht des Jungen. Er schätzte sein Alter auf vierzehn Jahre. Er war klein und blass, aber gut genährt. Seine Wangen leuchteten rot vor Aufregung. Die Augen des Jungen waren von einem dunklen Braun, und sie waren voller Leben. Das waren nicht die schwarzen, leeren Augen, die er bei Kanter, Agathe, Mathilda und Xaver Wredes Tochter gesehen hatte. Dies waren lebendige Augen. „Du bist keiner von ihnen, da bin ich mir ziemlich sicher.“
Albert klatschte in die Hände und lachte. „Komm!“, sagte er. „Komm meh-meh!“
„Komm meh-meh?“ Erik grinste. „Wohin soll ich komm-mehen?“
„Komm mit!“ Albert griff nach Eriks Hand und zog daran. „Ich zeig dir was!“, rief Albert, und Erik war überrascht, einen zusammenhängenden, sinnvollen Satz aus dem Mund des Jungen zu hören.
„Du zeigst mir was?“, sagte er lachend. „Na, dann los!“
Albert deutete auf Eriks bandagiertes Ohr und lachte.
„Ja“, sagte Erik. „Das ist lustig. Wolltest du mir das zeigen?“
Albert schüttelte den Kopf und führte Erik nach draußen. Am Himmel ballten sich dunkle Wolken zusammen, und ein kalter Wind blies über den Pfarrhof. „Komm!“, rief Albert. Dann lief er los und zog Erik hinter sich her.
Erik lachte laut auf. „He, nicht so schnell!“
Sie verließen das Klassenzimmer, überquerten den Pfarrhof und umrundeten den seltsamen schwarzen Fleck, traten durch das Gatter und
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