Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
schrägen Dissonanzen. Nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte, entspannte Erik sich und lauschte fasziniert dem seltsamen Konzert der Uhren, die allesamt auf die Sekunde genau aufeinander abgestimmt waren. Das Spektakel dauerte weniger als eine halbe Minute. Dann senkte sich erneut Stille über das Haus.
Erik lachte nervös auf und erklomm die letzten Stufen. Staubpartikel tanzten im Licht, das durch ein Fenster in den Gang fiel und ein helles Rechteck auf den ausgetretenen roten Teppich zeichnete. Erik ging langsam den Flur hinunter. Der Teppich dämpfte das Geräusch seiner Schritte. Vor der Tür am Ende des Ganges blieb er stehen. Alles war still. Er klopfte an.
„Kommen Sie herein! “, antwortete eine raue Stimme.
Er öffnete die Tür und betrat ein geräumiges Schlafzimmer. Ein süßlicher Geruch, der Bilder von Alter, Krankheit und Tod in ihm wachrief, hing im Raum. In einem Bett an der rückwärtigen Wand lag der Pfarrer von Thannsüß.
Der Lehrer schloss die Tür hinter sich. „Guten Tag, Herr Pfarrer“, sagte er. „Mein Name ist Erik Strauss, ich bin der neue Lehrer.“
Der Pfarrer richtete sich im Bett auf. Es schien ihn einige Anstrengung zu kosten. „Treten Sie näher, mein Junge.“
Der Lehrer durchquerte das Zimmer mit wenigen Schritten. Vor dem Bett stieß sein Fuß gegen eine Schüssel. Ein Scheppern ertönte, und die Metallschüssel schlitterte einen halben Meter über den Boden. Eine rote schleimige Brühe schwappte darin hin und her. Der Lehrer verzog das Gesicht.
„Sie müssen verzeihen“, sagte der Pfarrer. „Ich möchte meine Lunge nicht im gesamten Zimmer verteilen, deshalb spucke ich die einzelnen Stückchen in diese Schüssel.“
Der Lehrer spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss.
„Ich weiß, dass es kein schöner Anblick ist“, sagte der Pfarrer, und seine Stimme klang beinahe entschuldigend. „Wir hatten Sie bereits gestern erwartet, Herr Strauss. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie verwandt sind mit dem Vater solch meisterlicher Werke wie ‚Der Rosenkavalier’ und ‚Also sprach Zarathustra’?“
„Leider nein.“ Erik entspannte sich ein wenig. „Weder verwandt, noch verschwägert. Strauss ist ein geläufiger Name in München.“
„Das ist ein Jammer“, sagte der Pfarrer. „Wir könnten einen guten Musiker gebrauchen hier oben. Die Abende können bisweilen recht lang werden, vor allem im Winter.“ Der Pfarrer streckte ihm die Hand hin. „Ich bin Thomas Hellermann, Seelsorger dieser beschaulichen Gemeinde.“
Erik ergriff seine Hand. Sie war kalt, aber der Händedruck des Pfarrers war überraschend kraftvoll.
„Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Herr Pfarrer.“
„Die Freude ist ganz meinerseits, Erik. Stört es Sie, wenn ich Sie Erik nenne?“
Erik schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht.“
„Gut! Dann möchte ich Sie im Gegenzug bitten, mich nicht ‚Herr Pfarrer’ zu nennen. Wie Sie sicher wissen, legt das Evangelium keinen gesteigerten Wert auf Titel. Das können Sie nachlesen! Matthäus 23, Vers 8-10: ‚Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen. Auch sollt ihr niemand auf Erden euren Vater nennen. Auch sollt ihr euch nicht Lehrer nennen lassen.’ Und so weiter. Also nennen Sie mich einfach Thomas. Wir werden hier oben so viel Zeit auf recht engem Raum miteinander verbringen, dass ich weder den Platz noch die Notwendigkeit für derlei Förmlichkeiten sehe.“
Erik nickte zustimmend. Der Alte fing an, ihm zu gefallen. Thomas Hellermann hatte ein markantes Gesicht, in das die Zeit tiefe Gräben gepflügt hatte. Die schmalen Lippen und das eckige Kinn verliehen ihm einen harten Zug. Die beiden Magenfalten, die sich von der Mitte der Nase bis zu seinen Mundwinkeln hinunterzogen, wirkten, als hätte jemand sie mit einem Meißel in sein Gesicht geschlagen. Die schmale Adlernase und die Wangen waren gerötet. Sein Haar war weiß und schütter und stand in wirren Büscheln von seinem Kopf ab. Erik schätzte sein Alter auf Anfang siebzig.
Erik holte tief Luft. Jetzt oder nie, dachte er. Bring es hinter dich. „Bevor ich es vergesse.“ Erik zog die Pistole aus der Tasche. „Ich habe die hier im Gästehaus gefunden.“ Er hielt dem Pfarrer die Waffe hin, wartete auf eine Reaktion, aber Thomas Hellermann zeigte keine Regung. Erik spürte, wie seine Hände feucht wurden. Er räusperte sich. „Ich kann mit Waffen nichts anfangen, und vermutlich werde ich sie hier oben auch nicht brauchen, also ...“ Er bemühte sich
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