Der Teufel von Garmisch
wagte er den Schuss.
»Daneben«, sagte Carina.
Für den Bruchteil einer Sekunde erschien sie im Türrahmen. Sie trug
eine Art riesige klobige Brille vor den Augen. Sebastian spannte den Hahn und
schoss erneut.
»Daneben«, sagte sie wieder. Nun stand sie auf der anderen Seite der
Tür. Wieder schob sich der Lauf des Colts in den Raum. Wieder ein schmerzhaft
lauter Schuss, und die Taschenlampe erlosch.
»Getroffen«, sagte Carina.
Er hörte ein Knarren, aber er konnte nichts sehen. Es war
stockfinster. In seinen Ohren war ein lautes Kreischen, das die Schüsse
hinterlassen hatten. Plötzlich explodierte ein unfassbarer Schmerz in seinem
linken Arm. Er schrie auf und fiel zur Seite.
»Getroffen«, sagte Carina. »Ich kann dich sehen, Sebastian.«
Es tat einen weiteren Schlag, und Sebastian spürte Holzsplitter, die
neben seinem Kopf aus dem Boden gefetzt wurden. Er riss den Revolver hoch und
feuerte blindlings in Richtung der Tür.
»Daneben«, sagte Carina.
Plötzlich kam aus dem Gang ein brachiales Krachen.
»Waffe runter! Polizei!«, schrie eine Frauenstimme.
Der Strahl einer Stablampe hastete durch das Dunkel und traf Carinas
Kopf.
»Waffe runter!« Eine Männerstimme diesmal. Ein zweiter Lichtstrahl
traf Carina. Sebastian sah sie in Richtung Haustür starren. Sie zog das
Nachtsichtgerät von den Augen und ließ es zu Boden fallen. Langsam hob sie den
riesigen Revolver.
»Waffe runter!«, schrie die Frauenstimme wieder, aber Carina drehte
sich zu Sebastian.
»Ich habe die Regeln nicht gemacht«, sagte sie. »Aber wir müssen
danach leben. Und sterben.« Dann schob sie sich den Lauf in den Mund und
drückte ab.
ELF
»Ich weiß, dass es nicht besonders originell ist, was ich
mache«, las Schwemmer vor. »Doch es geht nicht um Originalität. Es geht um die
Regeln. Die Regeln sind einfach. Das heißt nicht, dass sie leicht zu ertragen
wären. Zumal für diejenigen, die sie nicht einhalten. Ich bringe diese Menschen
um. Einfach.«
»Wo habt ihr das her?«, fragte Ferdi.
»Von ihrer Festplatte. Sie hat beinah jeden Tag so etwas
geschrieben.«
»Ich werde mal analysieren, was ihr da gefunden habt. Vielleicht
kann ich dann mehr sagen.«
Schwemmer reichte ihm die Blätter.
»Gibt es auch was anderes als Texte?«
»Ihre Ausrüstung. Woher Waffe und Munition stammen, wissen wir noch
nicht. Aber sie scheint sie schon eine Weile besessen zu haben. Sie hatte einen
Stimmenverzerrer, Überwachungssoftware, Abhörmikros, Minikameras, ein
Nachtsichtgerät. Alles legal und problemlos erhältlich. Wir haben vier
verschlossene Gläser mit abgefeuerten Kugeln gefunden, Magnummunition jeweils
zwei in einem Glas. Sie hat immer zweimal geschossen. Bei der Berghofer ist sie
einen Tag später noch mal hin. Nur um den zweiten Schuss zu setzen.«
»Warum?«, fragte Ferdi, während er die Ausdrucke durchblätterte.
»Steht da drin«, sagte Schwemmer. »Um die Symmetrie zu wahren.
›Symmetrie ist nicht alles, aber alle Schönheit wurzelt in ihr.‹ Schönheit.
Nicht zu fassen.«
»Schönheit ist relativ«, sagte Ferdi, ohne den Blick von den Texten
zu wenden.
»War das jetzt dein Ernst?«, fragte Schwemmer.
Ferdi sah ihn irritiert an und schien erst da zu verstehen, was er
gerade gesagt hatte. »Nein …«, sagte er kleinlaut.
»Dräger hofft, an den Kugeln Blut- und Gewebespuren zu finden«, fuhr
Schwemmer fort. »Die könnte man analysieren. Ich bin mir sicher, dass sie den
Mord in Aschaffenburg auch begangen hat. Das Opfer war befreundet mit einem
Mann, der Kunde bei der Firma war, in der die Öckler damals gearbeitet hat. Sie
ist seinerzeit sogar befragt worden.«
»Viermal zwei Kugeln. Die Frau in Aschaffenburg, die Berghofer und
den Selbach«, zählte Ferdi auf. »Da sind zwei Kugeln übrig. Wen hat sie damit
erschossen?«
»Keine Ahnung«, sagte Schwemmer. »Aber das werden wir herausfinden.
»Was ist mit ihrer Mutter?«
»Die ist vor vier Jahren gestorben.«
»Könnte sie das vierte Opfer gewesen sein?«
»Möglich. Sie wird exhumiert. Die Tochter hat niemandem von ihrem
Tod erzählt. Ihre Kollegen gingen immer davon aus, dass sie die Mutter pflegt.
Solche Verdrängungsmechanismen kommen vor«, sagte Ferdi. »Aber ob sie Auslöser
oder Symptom einer Störung sind, hängt immer vom Einzelfall ab. Posthum ist das
natürlich erst recht schwierig. Aber es sieht schon nach einer schizophrenen
Psychose aus.«
»Hast du mit dem Kollegen in Aschaffenburg gesprochen?«
»Ja. Er sagt, sie sei am Ende
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