Der Teufel von Garmisch
die Straße hinunterbrüllte, und dann war es zu spät,
dann konnte er nicht mehr einsteigen, ohne gesehen zu werden.
Er musste sofort handeln. Seine Chance, unerkannt davonzukommen, war
nicht groß, aber sie schwand mit jeder Sekunde weiter. Ohne länger zu zögern,
spurtete er über die Straße. Er riss die Fahrertür auf, sprang hinein und
schaltete die Zündung aus.
Die plötzliche Ruhe fühlte sich ohrenbetäubend an. Er schloss so
leise wie möglich die Tür, schaltete die Innenbeleuchtung ab und spähte nach
draußen.
Es war niemand zu entdecken. Aber etwas weiter die Straße hinauf, in
dem Haus gegenüber der Apotheke, meinte er eine Bewegung hinter einem offenen
Fenster wahrzunehmen. Plötzlich glomm eine Zigarette auf. Stand die Person
schon länger dort? Dann würde sie ihn gesehen haben.
Wie auch immer: Seine Situation hatte sich nicht geändert. Egal, was
er machte, es war besser, als nichts zu tun. Und am besten war, es sofort zu
tun.
Er startete den Motor wieder. So gelassen wie möglich fuhr er an und
die Ludwigstraße hoch. Dann bog er links ab in die Münchner. Er war der einzige
Mensch unterwegs. Nach einem halben Kilometer fuhr er zur Wankbahn hoch. Er
rollte an der Einfahrt zum Wohnmobilstellplatz vorbei und rumpelte über das
Viehgitter. Dort, im Schatten der Bäume, hielt er an.
Er fuhr das Seitenfenster hinunter. Mit geschlossenen Augen atmete
er tief ein und aus. In ihm tobte das Adrenalin, er spürte sein Herz im Hals
schlagen. Die Stimme würde die Sache mit dem Auto für eine »lustige Idee«
halten. Ihn hatte sie an den Rand eines Herzinfarkts gebracht.
Andererseits fühlte er sich immer noch halb sediert. Carinas
Tabletten schienen ein ziemliches Teufelszeug zu sein, zumindest waren sie
wirkungsvoll.
Er atmete weiter tief und konzentriert. Die Polster der Sitze hatten
den Duft von Sannes Parfüm eingefangen. Ihr Bild tauchte vor ihm auf, ihre
goldenen Haare und das Funkeln ihrer Augen. Aber dann, als hätte ein Hieb ihn
getroffen, zuckte er zusammen, und mit einem Schlag waren dort, wo eben noch
das Funkeln gewesen war, zwei schwärzlich rote, leere Höhlen.
Keuchend riss er die Augen auf. Er starrte in die Dunkelheit,
kämpfte gegen das Zittern an, das Besitz von ihm ergreifen wollte. Es war das
Gefühl der Hilflosigkeit, das sich näherte, es kroch an ihm hoch, altbekannt
und doch immer wieder furchtbar – ein Vakuum, das ihn umgab und alle Kraft aus
ihm herauszusaugen versuchte.
Mit einem Ruck stieß er die Wagentür auf und taumelte ins Freie.
Stille. Plötzlich spürte er die Kälte der Herbstnacht, die sein Körper bisher
gar nicht wahrgenommen hatte. Er fror. Seine Füße, ohne Strümpfe in den
Lederschuhen, waren Eisklumpen. Er schlug die Arme um den Oberkörper, aber es
half nicht. Die Kälte ließ ihn zittern.
Seine Brieftasche. Er musste sie finden. Wenn es nicht ein weiterer
makabrer Scherz der Stimme war, war sie im Auto. Er setzte sich wieder auf den
Fahrersitz und durchsuchte die Mittelkonsole. Sie enthielt Kram, wie man ihn in
den meisten Mittelkonsolen und Handschuhfächern findet: Eiskratzer,
Parkscheibe, Papiertaschentücher. Er durchsuchte die Türablagen, öffnete die
hinteren Türen, suchte im Fond, tastete unter den Sitzen. Nichts.
Dann der Kofferraum. Eine Sporttasche. Der unangenehme Geruch
durchgeschwitzter Kleidung ging von ihr aus. Er öffnete sie und kippte den
Inhalt aus.
Ein Tanktop, Leggins, Socken, leichte Sportschuhe, ein Haarband,
zwei Handtücher, Duschgel.
Keine Brieftasche. Er stopfte die Sachen wieder in die Tasche und
stellte sie neben dem Wagen ab. Dann hob er den schweren Teppich auf dem
Kofferraumboden an und öffnete die Klappe zum Fach mit dem Ersatzrad.
Da war sie, unter dem Rad. Durch die Löcher in der Felge konnte er
sie sehen. Er löste die Flügelschraube, die das Rad hielt, und hob es heraus.
Dann griff er nach der Brieftasche und klappte sie auf.
Seine Papiere waren da. Seine Scheckkarten. Sogar der
Fünfzigeuroschein.
Was fehlte, waren seine Visitenkarten. Und seine Notizzettel. Sein
kleines, ungeordnetes Tagebuch. Seine Gedanken. Seine Gedanken zu dem einen
Thema.
Sanne.
Er fluchte leise vor sich hin. Als Erstes musste er eine
Entscheidung darüber treffen, was er mit dem Wagen anfangen sollte. Sobald die
tote Sanne entdeckt war, würde danach gesucht werden, und egal, wo er ihn
abstellte, über kurz oder lang würde er entdeckt werden. Eigentlich war dieser
Ort hier nicht der schlechteste. Er würde ihn einfach
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