Der Teufel von Garmisch
stehen lassen und zu Fuß
nach Hause laufen. Vielleicht würde ihm sogar ein bisschen warm werden, wenn er
sich bewegte.
Er überlegte, seine Fingerabdrücke zu beseitigen, aber letztlich
dürfte es kaum noch eine Rolle spielen, wenn man sie in dem Wagen entdeckte,
nachdem man sie in der Wohnung oder sogar auf der Tatwaffe gefunden hatte.
Sebastian bückte sich nach dem Ersatzrad, um es wieder in den
Kofferraum zu legen, aber ein Geräusch ließ ihn aufmerken. Ein Auto näherte
sich. Er trat aus dem Schatten der Bäume hinaus und sah die Straße hinunter.
Ein Scheinwerferpaar kam den Berg herauf auf ihn zu. Er sah sich hektisch um,
dann überquerte er die Straße und lief zwischen Büschen und Bäumen den Hang
hinunter.
Das Motorengeräusch wurde immer lauter. Es war dunkel zwischen den
Kiefern, einen Baumstamm erkannte er erst, als er schon fast dagegengeprallt
war. Dornen rissen an seiner Hose. Plötzlich wurde der Hang steiler. Nach ein
paar stolpernden Schritten auf dem feuchten Waldboden verlor er den Halt. Er
stürzte und rutschte bäuchlings bergab, bis ein dorniger Busch ihn aufhielt.
Ein stechender Schmerz fuhr in seinen linken Ellbogen, und er konnte einen
Schrei nicht völlig unterdrücken. Keuchend blieb er liegen. Oben auf der Straße
hörte er das Auto anhalten. Der Motor erstarb, eine Tür öffnete sich. Ein
Funkgerät krächzte. Es war ein Streifenwagen.
»Das ist tatsächlich der Wagen«, hörte er einen der Polizisten
sagen.
Die Stimme! Sie hatte es ihnen verraten. Woher sonst konnte die
Polizei wissen, wo der Wagen war? Der Mörder musste ihm gefolgt sein.
Natürlich. Er war in der Nähe gewesen. Schließlich hatte er den Wagen ja vor
seiner Tür abgestellt.
Eine »lustige Idee«.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht robbte Sebastian aus dem Busch heraus
und kroch weiter hinunter, bis er außer Sicht war.
Vorsichtig richtete er sich auf und sah den Hang hoch. Der Strahl
einer Stablampe fuhr zwischen den Bäumen umher. Schnell zog er den Kopf ein,
aber der Strahl verschwand wieder.
Er sah sich um. Er lag auf weißem Kies. Der Philosophenweg. Hier war
er oft mit seiner Mutter spazieren gegangen, als sie das noch gekonnt hatte.
Immer wenn er sie im Klinikum besucht hatte, wollte sie mit ihm hierher. Ein
schöner Weg, einfach zu gehen; auch als sie schon schwächer gewesen war, konnte
sie hier noch wandern, zumindest auf diesem flacheren Stück. Und jedes Mal
lernte sie einen der Aphorismen auswendig, die auf den Metallplaketten der
Bänke standen. Beim nächsten Mal trug sie ihn dann vor, und Sebastian musste
überprüfen, ob es richtig war.
Er schüttelte die Erinnerung ab und wollte losgehen. Doch schon bei
der ersten Bewegung meldete sich sein Ellbogen. Zischend sog er die Luft ein.
Er tastete das Gelenk ab und streckte vorsichtig den Arm. Gebrochen schien
nichts, aber der Schmerz war schwer erträglich. Er fixierte mit der Rechten den
linken Unterarm und marschierte los. Das Wissen, nur durch ein paar Bäume von
der Rückseite der Polizeiwache getrennt zu sein, machte ihn nicht ruhiger. Bei
jedem Schritt fuhr ein Stich in seinen Ellbogen. Seine kalten Füße schmerzten,
doch er ging, so schnell sie ihn trugen. Mühsam unterdrückte er einen
Schmerzensschrei, als sein Schuh in einer Drainagerinne hängen blieb und er
fast gestürzt wäre. Im schwachen Licht sah er links vom Weg eine Bank. Er gab seiner
Schwäche nach und setzte sich darauf.
In der Dunkelheit war die Plakette auf der Lehne nicht zu
entziffern, aber er wusste, dass sie Adam Smith gewidmet war. Hier hatten sie
gemeinsam gesessen, und Mutter wollte den Spruch aufsagen, den sie beim letzten
Spaziergang auswendig gelernt hatte, aber sie hatte ihn nur hilflos angesehen.
»Der Mensch«, hatte sie gesagt, ein ums andere Mal. »Der Mensch …«
Mehr wusste sie nicht mehr, und ihnen beiden war klar gewesen, dass es zu Ende
ging. Und sie hatten nebeneinandergesessen, aneinandergelehnt, und geweint.
Sebastian hatte Tränen in den Augen, nicht wegen der Schmerzen,
nicht nur zumindest. Er hatte das lange Zitat nie vergessen.
»Der Mensch braucht fortwährend die Hilfe seiner Mitmenschen, und er
würde diese vergeblich von ihrem Wohlwollen allein erwarten. Er wird viel eher
zum Ziele kommen, wenn er ihren Egoismus zu seinen Gunsten interessieren und
ihnen zeigen kann, dass sie ihren eigenen Nutzen davon haben, wenn sie für ihn
tun, was er von ihnen haben will.«
Und jetzt? Wer hatte etwas davon, ihm zu helfen? Er hatte keine
Ahnung, wie
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