Der Teufel von Garmisch
er jemanden davon überzeugen könnte, dass er einen Nutzen daraus
zog, ihm beizustehen. Er war allein. Er musste weiter.
Er zwang sich hoch und wankte vorwärts, erreichte die Pforte am
Schützenhaus. Vorsichtig querte er den schlaglochübersäten Parkplatz und
näherte sich der Kreuzung an der Wankbahnstraße. Er blieb im Schatten und
beobachtete die Fahrbahn. Tatsächlich kamen zwei Wagen von der Münchner Straße
her herangeschossen. Der erste war ein Streifenwagen, das Blaulicht rotierte,
aber das Martinshorn war ausgeschaltet. Dicht dahinter kam ein ziviler Audi.
Die beiden Autos rasten an ihm vorbei.
Er wartete, bis er sicher war, nicht mehr im Rückspiegel bemerkt zu
werden, dann hastete er über die Straße. Er atmete erst auf, als er sich wieder
unter Bäumen befand. Hier fühlte er sich fast sicher. Er schleppte sich die
Steigung hoch, immer weiter. Er musste es irgendwie ungesehen zur Ludwigstraße
schaffen. Wenn er in seinem Zustand jemandem begegnete, würde der das bestimmt
nicht vergessen. Er wusste nicht, wie spät es genau war, aber es ging
sicherlich auf fünf Uhr zu – eine Zeit, in der er mit den ersten Frühaufstehern
rechnen musste.
Irgendwo hier musste die Bank mit dem Kant-Zitat stehen. »Die beste
Verfassung ist die, wo nicht der Mensch, sondern die Gesetze machthabend sind.«
Mutter hatte sich gern darüber amüsiert, dass dort »de Gesetze« stand, nicht
»die«.
Im Moment fühlte Sebastian sich, als wolle Kant ihn verhöhnen. Über
ihn hatten beide Macht. Ein Mensch. Und das Gesetz.
Eine Adorno-Bank gab es auch, auf der etwas von der
»Entbarbarisierung der Menschheit« stand, eine für Schelling, und dann, weiter
den Weg hinauf, die für Alfred Delp, einen Jesuiten, den die Nazis umgebracht
hatten. Sebastian hatte den Namen vorher nie gehört, aber das Zitat hatte ihm
damals sehr gefallen.
»Freiheit ist der Atem des Lebens.«
Nun hatte er keine Freiheit mehr. Er hatte nicht einmal mehr ein
Leben.
Hinter dem flachen Stück, von dem aus man die Scheinwerfer an der
Sprungschanze durch die entlaubten Äste leuchten sah, nahm er den Abzweig, der
zum Ort hinunterführte. Der Weg war so steil, dass er unfreiwillig ins Laufen
geriet. Fluchend stolperte er immer wieder über die Rundhölzer, die zur
Stabilisierung in den Schotter des Weges eingelassen waren. Unten hielt er
einen Moment an; den rechten Arm aufs Knie gestützt kämpfte er um Atem.
Es war still, nur das Rauschen des Katzenbachs in seinem Betonbett
war zu hören. Er lief an dem Graben entlang bis zum Hölzlweg. In einem der
Häuser brannte Licht, aber die Straße selbst war menschenleer. Er bog in die
Dr.-Gazert-Straße, auch hier war er allein, nur ein Fuchs schnürte vom
Holzlagerplatz an der Ecke über die Fahrbahn. Als er gerade auf die Münchner
Straße gebogen war, sah er vom Ort her einen Transporter herankommen. Bevor der
Scheinwerferkegel ihn erreichen konnte, lief er in einen Hauseingang hinein,
aber dort schaltete ein Bewegungsmelder die Lampe über der Tür an. Schnell
duckte er sich hinter die niedrige Hecke. Der Transporter rollte vorbei.
»Süddeutscher Pressevertrieb« stand auf der Seite des Wagens. Sobald er weg
war, beeilte er sich, fort von der Lampe und der Tür zu kommen.
Dreihundert Meter, mehr waren es nicht, aber sie kamen ihm endlos
vor. Endlich erreichte er die Haustür. Er ließ sie hinter sich ins Schloss
fallen und sank aufatmend dagegen.
Aber schon Sekunden später schreckte er hoch: Das Treppenhauslicht flammte
auf. Jemand kam von oben. Er sah an sich hinunter. Hose und Sweatshirt waren
nass und verdreckt, die Hände blutig zerkratzt von den Dornen des Buschs, in
dem er gelandet war. In diesem Zustand, gerade jetzt, durfte er nicht gesehen
werden.
Schritte kamen die Treppe herab. Wer immer es war, er war noch
mindestens zwei Stockwerke entfernt.
Er hatte zwei Möglichkeiten: zurück auf die Straße oder in die
Tiefgarage. Im Bruchteil einer Sekunde entschied er, dass er nicht wieder auf
die Straße gehen würde. Schnell streifte er die Schuhe von den Füßen, nahm sie
in die Hand und lief lautlos die Treppe hinunter. Er öffnete die schwere
Feuerschutztür zur Garage und versuchte, sie leise wieder zu schließen, aber es
gelang ihm nicht, das metallische Klicken des Schlosses zu verhindern. Er
drückte auf den Lichtschalter und rannte zu seinem R5 hinüber, wobei er
gleichzeitig umständlich den Schlüsselbund aus der Tasche zog.
Hastig schloss er die Fahrertür auf, glitt auf den
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