Der Teufel von Garmisch
Rheinbrücke, dahinter stand das erste von drei bizarr
aussehenden riesigen Häusern. Hier war der Straßenbelag noch nicht fertig.
Rechts des Weges tauchte der Gitterzaun einer Baustelle auf. Er hielt an und
rang nach Luft. Niemand war zu sehen. Es war eine unwirkliche Atmosphäre. Er
stand auf einer alten Hafenstraße, an der sich jetzt Büros, Geschäfte und
Gastronomie ansiedelten. Im gelben Licht der Straßenlaternen konnte er schier
endlos weit die Straße entlangsehen, aber da war kein Mensch. Zwischen diesen
riesigen Gebäuden, inmitten dieser großen Stadt, war er völlig allein. Er sah
sich um. Ein Fahrradfahrer tauchte auf, hundert Meter weiter. Er kam vom Fluss
her, querte die Straße und war wieder verschwunden.
Sebastian sah sich die Baustelle näher an. Ein Dutzend Kanalrohre
lagen gestapelt hinter dem Zaun zu seiner Rechten. Links stand ein kleiner
Bagger neben einem Stapel rot-weißer Absperrplanken. Sebastian tastete über
sein Handgelenk, aber er hatte seine Uhr im Zimmer liegen lassen. Er zog das
Handy aus der Hosentasche. Das Display zeigte fast zwei Uhr, aber er hatte
keine Ahnung, wie lange der Anruf her war. Er rief die angenommenen Anrufe auf
und las die Uhrzeit ab. Ein Uhr fünfunddreißig. Er war fünf Minuten zu spät
gekommen, und er hatte keine Ahnung, was das bedeuten würde. Vielleicht war der
Mörder noch da.
Ganz bestimmt sogar, dachte er. Selbst wenn er sich nicht zeigt, er
wird es sich nicht entgehen lassen, sich den abgehetzten und verzweifelten
Sebastian anzuschauen, den er hierherkommandiert hat. Seine Hand krampfte sich
um das Handy. Er würde anrufen, da war er sich sicher. Jeden Moment würde das
Handy klingeln.
Er meinte eine Bewegung in den Augenwinkeln wahrzunehmen, aber
wieder war es nur ein Fahrrad, das weit entfernt die Straße kreuzte. Die
Minuten verrannen. Es regnete nicht mehr. Ein schwacher Trost. Er überlegte,
wie lange er warten sollte, was die Stimme von ihm erwarten würde, und
beschloss, noch eine Weile zu bleiben.
Es war einsam, wo er stand, aber es war nicht leise. Er hörte
Geräusche, vom Hafenbecken, von der Hauptverkehrsstraße jenseits davon, vom
Fluss. Dann hörte er ein Geräusch ganz in der Nähe, direkt hinter ihm.
Als er sich danach umdrehte, sah er etwas auf sich zukommen. Es war
ein dunkler, kantiger Gegenstand. Er kam sehr rasch näher. Und traf ihn an der
Stirn.
Dann sah er nichts mehr.
* * *
In der Dunkelheit liegt Sinn. Nicht im Licht.
Aller Sinn liegt dort, im Finstern. Am Anfang war die Dunkelheit. Das Licht ist
der große Zerstörer. Es schuf das Sehen und die Hässlichkeit. Vollkommen kann
nichts sein im Licht. Vollkommenheit ist nur in der Finsternis. Es gilt, sie zu
schaffen, wo immer es möglich ist. Im Innern. Und im Äußeren. Im eigenen
Innern. Und im Äußeren der anderen.
* * *
Rotes Neon leuchtete über einer schwarzen Tür. »Swingerclub«
stand dort in blutroten Buchstaben im schwarzen Nichts. Er hob die Hand, aber
er wagte nicht, an die Tür zu klopfen. Er wusste, dass sie dahinter war, und er
wollte nicht wissen, was sie tat. Dann, so plötzlich, dass ihn ein Schmerz
durchfuhr, wurde die Tür geöffnet. Sanne stand vor ihm. Sie trug Wäsche aus
schwarzer Seide, und sie bemerkte ihn nicht. Es war, als sei er gar nicht da.
Sie streckte die Hand aus, und ihm wurde klar, dass er tatsächlich nicht da
war. Sie griff einfach durch ihn hindurch und ergriff die Hand eines anderen.
Der Mann trug eine schwarze Ledermaske, aber Sebastian wusste, dass es Selbach
war. So wie eben ihre Hand trat Selbach nun durch ihn hindurch und ging an
Sanne vorbei durch die Tür. Sie drehte sich noch einmal um und lächelte, aber
ihre Augen waren nicht mehr da.
»Wach auf«, sagte sie, dann schloss sie die Tür.
»Wach auf«, wiederholte ihre Stimme, obwohl er sie gar nicht mehr
sehen konnte.
»Wach auf, Sebastian. Wach doch auf! Bitte!«
Er verstand, warum sie das wollte. Er sollte aufwachen und
verschwinden aus ihrer Welt. Ihr nicht im Weg sein. Aber sie hat mich doch gar
nicht bemerkt, dachte er, und dieser Gedanke schmerzte in seiner Stirn. Ein
Gedanke, der schmerzt, das wird ja immer schöner, dachte er und griff sich an
die Stirn. Das heißt, er wollte sich an die Stirn greifen, aber eine andere
Hand fasste die seine und hielt sie fest.
»Alles wird gut«, sagte Carina, und er schlug die Augen auf.
Es hatte wieder zu regnen begonnen. Seine Kleidung war durchnässt.
Er lag flach auf dem Rücken neben dem Bauzaun, genau dort, wo
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