Der Teufel von Herrenhausen
ich weiß gar nichts.«
Bergheim nahm
diese Entgegnung, die mehr beantwortete, als gefragt worden war, mit einem
Nicken zur Kenntnis.
»Wann hast du ihn
zuletzt gesehen?«
»Gestern in der
Schule«, sagte Eric.
»Ist gestern
irgendwas vorgefallen?«
»Nein, sagte ich
doch schon. Wenn’s so wäre, würde ich’s sagen.«
Bergheim war sich
da nicht so sicher. »In welchen Netzwerken war er unterwegs?«
Eric wich
geschickt seinem Blick aus. »In den üblichen, Facebook und so.«
»War er dort unter
seinem richtigen Namen unterwegs?«
»Keine Ahnung, wir
simsen immer.«
»Tatsächlich?«,
sagte Bergheim und glaubte dem Jungen kein Wort. »Na, macht nichts«, sagte er,
»wir finden ihn dort. Wann hat er dir das letzte Mal gesimst?«
»Weiß nicht, ist
schon ein paar Tage her.«
»Kann ich die SMS sehen?«
Eric verschränkte
die Arme. »Geht nicht. Hab gestern den Speicher gelöscht, war voll.«
Bergheim schürzte
die Lippen und fragte sich, was der Junge wusste und warum er nicht redete. Er
versuchte es anders. »Seine Eltern sind völlig verzweifelt. Wenn du etwas
weißt, solltest du es sagen«, sagte er eindringlich.
Eric schluckte und
zögerte einen Moment zu lange. »Ich sagte doch schon, ich weiß gar nichts.«
Bergheim wusste,
dass das eine Lüge war, aber er würde hier nichts mehr erreichen. »Wann kommen
deine Eltern zurück?«, fragte er und erhob sich.
»Oh, das kann neun
werden. Die arbeiten immer lange.«
Bergheim nickte.
»Na gut«, sagte er, »falls du’s dir anders überlegst und mir was mitzuteilen
hast.« Er reichte dem Jungen die Karte und ging.
Er seufzte, als er
wieder auf der Straße stand. Schwieg der Junge, weil er sich schuldig fühlte
oder aus Solidarität seinem Freund gegenüber? Hatte der ihn womöglich darum
gebeten? Hier stimmte etwas ganz und gar nicht, aber er hatte keine Ahnung, wie
er diesen Bengel zum Reden bringen sollte. Und die Eltern würden ihm dabei
keine Hilfe sein, das war ihm klar. Sie hatten wahrscheinlich keine Ahnung vom
Leben ihres Sohnes. Trotzdem, Kramer sollte ihnen einen Besuch abstatten.
Um halb neun
betraten Charlotte und Bergheim gemeinsam das Treppenhaus in der
Gretchenstraße. Als sie im zweiten Stock anlangten, öffnete sich die
Wohnungstür von Susanne und Vivian Schleich. Susanne Schleich, eine rundliche
Person in den Vierzigern, trat heraus und lächelte Bergheim an. Sie hielt sich
aufrecht, war in dezentes Dunkelblau gekleidet und sah aus, als wolle sie in die
Oper gehen. Und das um diese Zeit, wunderte sich Charlotte.
»Verzeihung«,
lächelte Frau Schleich und strich sich eine imaginäre Strähne ihrer blonden
Kurzhaarfrisur hinters Ohr. »Ich wollte mich noch bei Ihnen bedanken, dass Sie
sich um Vivian gekümmert haben. Kommen Sie doch einen Moment herein, bitte.«
Die Einladung war mehr an Bergheim gerichtet als an Charlotte. Die
verabschiedete sich und erklärte, sie erwarte noch einen Anruf. Frau Schleich
schien nicht übermäßig enttäuscht und ließ Bergheim eintreten.
Mit erleichtertem
Seufzen betrat Charlotte ihre Wohnung, ging in die Küche, warf die Einkaufstüte
mit Tomaten, Käse und Schinken auf den Tisch, räumte die verschmierten
Nutella-Löffel beiseite und begab sich ins Bad.
Jans Zimmertür war
geschlossen, aber sie hörte jemanden reden. Es war die Stimme eines jungen
Mädchens. Charlotte lächelte und zog sich still zurück.
Nachdem sie
ausgiebig geduscht hatte, streifte sie ein leichtes Baumwollkleid über, ging
ins Wohnzimmer und öffnete die Balkontür. Der Balkon ging auf einen kleinen
Innenhof, war relativ geräumig und bot Platz für zwei Liegestühle und einen
kleinen Tisch. Man konnte hier wunderbar zu zweit frühstücken oder abends ein
Bier trinken. Charlotte ging zurück in die Küche, bereitete Brote mit Käse und
Schinken zu und garnierte alles mit Kirschtomaten und Gurkenscheiben. Dann nahm
sie zwei Herrenhäuser aus dem Kühlschrank und trug alles zum Balkon.
Rüdiger war noch
nicht zurück. Was trieb er nur so lange?
In diesem Moment
bewegte sich etwas vom Flur Richtung Küche. Es war Jan, der sich einen Löffel
aus der Schublade holte, eine Scheibe Toastbrot aus der Packung nahm und einen
Berg Nutella darauf häufte.
»Hast du Besuch?«,
fragte Charlotte, die im Türrahmen stand.
»Die Bohnenstange
von unten«, sagte Jan und legte den Löffel auf den Tisch.
»Vivian
Schleich?«, fragte Charlotte erstaunt.
»Ich glaub, so
heißt sie.« Jan wollte sich an ihr vorbeidrängeln, aber Charlotte
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