Der Teufel von New York
schlimm genug gewesen, dass ich meinem Bruder etwas von seinem Laudanum stibitzt hatte, einen ästhetischen Schock brauchte ich nicht auch noch dazu.
»Was bist du nur für ein Pinsel«, hatte mein Bruder kopfschüttelnd gesagt, während er mit großer Sorgfalt Kaffeebohnen röstete. »Sei nicht so zimperlich, um Himmels willen. Jetzt linz dich halt an, und dann ist’s gut.«
»Verzupf dich, Valentine.«
»Hör zu, Tim, ich hab’s ja anfangs gut verstehen können, dass du dich verkriechen willst, wenn man bedenkt, was damals passiert ist, als du noch ein Schratz warst ...«
»Spätestens morgen bin ich raus aus deinem Haus«, hatte ich erwidert, die Tür hinter mir zugeschlagen und damit das Gespräch beendet.
Ich überquerte die Walker Street, ging die Elizabeth Street hoch, und dann stieß ich mit einem Mal vor lauter Überraschung die Fäuste in meine immer noch rußigen Taschen.
Das Gebäude vor mir war ein echtes Wunder. Ein Stein gewordenes Verzeichnis von Mitteln und Wegen. Die Fenstersimse und Fensterläden waren nicht gerade strahlend sauber, aber sie waren mit Essig geschrubbt und einigermaßen ansehnlich. Wäschestücke flatterten an einer Hanfleine in der Sonne. Sie waren sorgfältig geflickt worden, hier hingen keine zerrissenen Lumpen von der Leine, und das war ein beruhigendes Gefühl. Direkt vor meinen Augen stand, sauber und bescheiden, ein zweistöckiges Reihenhaus aus Backstein, mit einem Schild ZIMMER ZU VERMIETEN , TAGE - UND MONATSWEISE . Im Erdgeschoss stand in anmutiger Kalligraphieschrift auf einer kleinen Markise geschrieben: Mrs. Boehm’s feine Backwaren . Keine zehn Fuß vom Eingang entfernt stand eine Pumpe bereit, sauberes Croton-Wasser auszuspucken.
Das waren vier hervorragende Mittel und Wege, falls Sie mitzählen möchten.
Erstens: Die Pumpe bedeutete reines Westchester-Flusswasser, und nicht die dreckige Brühe, die aus Manhattans Sinkbrunnen geschöpft wird. Wenn man eine Leitung mit Wasser aus dem Croton River im Haus haben will, dann heißt das, dass der Vermieter im Voraus für den Dienst zahlen muss, und das geschieht etwa genauso oft, wie der Atlantik zufriert, so dass ein Mann nach London laufen kann. Da ist es am besten, man wohnt neben einer kostenlosen öffentlichen Pumpe. Zweitens: Über einer Bäckerei zu wohnen, das bedeutet Brot vom Vortag, billig oder umsonst. Ein Bäcker ist tausendmal eher geneigt, seinem Nachbarn das überzählige Roggenbrot zu spendieren als einem Fremden. Drittens: Bäckereien beschicken ihren Ofen zweimal am Tag, so dass ich im November nur einen blassen Bruchteil der üblichen Heizkosten zu bezahlen hätte, denn die Öfen würden, während die Kümmelbrötchen buken, gleichzeitig meinen Boden heizen.
Und schließlich bedeutete »Mrs. Boehm«, es musste eine Witwe sein. Frauen können kein eigenes Unternehmen gründen, aber wenn sie sehr geschickt sind, können sie vielleicht eins erben. Und ich konnte genau sehen, dass die Farbe auf dem Ladenschild bei der »Mrs.« frischer war als beim Nachnamen. Das war folglich Mittel und Weg Nummer vier. Denn wenn du mal die Miete nicht zahlen kannst, die Witwe aber jemanden braucht, der ihr das Dach flickt, dann landest du vielleicht nicht gleich auf der Straße.
Ich schob die Tür zur Bäckerei auf.
Sehr klein, aber sehr gehegt und gepflegt. Auf einer schlichten Theke aus Kiefernholz lagen Roggenbrote und einfache braune Bauernbrote gestapelt, die süßen Teilchen waren auf einem Tablett mit Blumenmuster angerichtet. Ich sah Rosinen aus einem Tausendjahrkuchen herauslugen, und sein Duft nach kandierter Orangenschale belebte meine Sinne.
»Darf es Brot für Sie sein, Sir?«
Meine Augen glitten von den Backwaren zu der Frau, die sie gemacht hatte und die nun, die Hände an der Schürze abwischend, auf mich zukam. Mrs. Boehm war etwa in meinem Alter, näher an den dreißig als den zwanzig. Sie hatte ein festes Kinn, und ihre blassblauen Augen blickten forschend und wachsam – was mich, in Anbetracht der noch ganz frischen »Mrs.« über ihrer Tür, zu der Annahme brachte, ihr Mann sei noch nicht lange von ihr gegangen. Ihr Haar hatte die Farbe der Kerne, die ihre Sonnenblumenbrötchen zierten, ein stumpfes, glanzloses Blond, das fast schon grau wirkte, und ihre Stirn war zu breit und zu flach. Doch auch ihr Mund war breit, wie mit einem großzügigen Pinselstrich hingeworfen, ein eigentümlicher Kontrast zu ihrem dünnen Leib. Wenn ich nur ihre Lippen betrachtete, konnte ich mir Mrs. Boehm
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