Der Teufel von New York
ist eine schwere Sünde zu lügen, wenn ...«
»Ich glaube nicht, dass sie lügt«, murmelte ich. Das ist so eine Fertigkeit, die man schult, wenn man beruflich viel mit Leuten redet. Lügen haben einen ganz eigenen Geschmack, sie sind glatt und zuckrig, und das hier war etwas anderes.
»Mrs. Rafferty, haben Sie den Reverend vorhin nicht klopfen hören? Er hat sich Sorgen um Sie gemacht.«
»Ich habe ihn gehört. Ich hab seine Stimme erkannt. Aber ich will nicht den Papst einen Lügner schimpfen, will ihn nicht verraten, das sag ich Ihnen. Nicht mal für gute Milch, wie er sie mir beim letzten Mal versprochen hat, als ich schon auf den Knien drum gebettelt hab.«
Ich sah den Pfarrer an, der meinen Blick gequält erwiderte.
»Ich habe nur extrem begrenzte Mittel für wohltätige Zwecke. Das erfüllt mich mit Scham, und zwar täglich. Aber dafür haben wir jetzt keine Zeit. Wir müssen ...«
»Wofür hätten Sie die Milch denn gebraucht, Mrs. Rafferty?«, hakte ich nach.
»Für Aidan.«
Ihre gesprenkelten Augen weiteten sich ein wenig, als sie sich selbst reden hörte. Ich tauschte einen Blick mit dem Pfarrer. Es gab also einen Säugling, und in dieser Zelle war nicht mal genug Platz, einen gestohlenen Kupferpenny zu verstecken. Ich beugte ein Knie, damit Mrs. Rafferty mich besser sehen konnte. Ihr Blick war schon ziemlich verkniffen von all der Näherei in schlechtem Licht. Wenn sie weiter so arbeitete, würde sie in zehn Jahren oder weniger erblindet sein.
»Nachdem der Pfarrer geklopft hatte, aber noch bevor wir hereinkamen, da haben Sie doch etwas hinausgebracht«, sagte ich freundlich. »Ich frage mich, was das wohl gewesen ist.«
»Nur eine von den Ratten«, flüsterte sie. »Die beißen mich fürchterlich in der Nacht. Sie kommen durch die Dielenbretter. Ich hab sie ins Spülbecken getan, am Ende vom Gang.«
»Hatten Sie denn keine Angst«, fragte ich weiter, wobei mein Magen sich ganz hohl anfühlte, »als Sie das Tier hochgenommen und weggebracht haben?«
»Nein«, sagte sie, und ihre Lippen zitterten dabei wie Mottenflügel. »Es war doch schon tot.«
Ich warf dem Pfarrer einen verzweifelten Blick zu. Aber seine Stiefel polterten schon den Gang hinunter.
Sie war erschrocken über die Ratte , dachte ich stur, sprang auf und stürzte Hals über Kopf aus der Tür, und als sie die Ratte fortbrachte, hat sie das Baby vergessen. Ja, ja, die Ratte ist in dem Spülbecken und das Baby liegt gewiss in irgendeinem Korb, der daneben steht, und sie ist wie benommen zurück in ihr Zimmer gegangen, ohne ... Aidan heißt es. Aidan Rafferty liegt in einem Korb am Ende des Gangs.
Der Pfarrer presste einen erstickten Laut in seinen dunklenÄrmel. Er stand am Ende des Flurs mit der abblätternden Wandfarbe, eine Silhouette, die sich vor dem Licht des einzigen Fensters über dem verdreckten gemeinschaftlichen Spülbecken wie ein Scherenschnitt abhob. Ich sah meine Füße durch die Hinterlassenschaften der Hühner laufen, die durch die Tür hereingekommen waren. Ich merkte, dass ich die Dinge wieder nur bruchstückhaft wahrnahm. Die Spüle war einst ein billiges Holzbecken gewesen, und jetzt war sie die vom Schimmel heimgesuchte Heimat summender Fliegen, die Reverend Underhill aufgescheucht hatte.
»Wir holen einen Arzt«, sagte ich blödsinnigerweise, noch ehe ich es mir angesehen hatte. Ich konnte das wieder in Ordnung bringen, ich musste das wieder in Ordnung bringen. »Wir holen auf der Stelle einen Arzt.«
»Ein Arzt nützt uns gar nichts«, antwortete der Pfarrer, der sich wieder ein wenig gefasst hatte. Sein Gesicht war allerdings weiß wie die Wand. Ein glühendes Weiß, ein Weiß wie der Ruhm Gottes. »Sie braucht jetzt einen Priester.«
Seit jenem Tag habe ich mich tausendmal gefragt, warum dieser besondere Todesfall mich so getroffen hat. Der Tod, so heißt es, ist etwas ganz Gewöhnliches. Und der Tod von Kindern umso mehr. Sie sind so vielen Grausamkeiten ausgesetzt, dass ich ihr Überleben nicht im Entferntesten für möglich halten würde, wäre ich nicht einst selbst ein Kind gewesen. Angenommen, ihre Eltern lieben sie? Dann sind sie immer noch ein Spielball launischer Krankheiten und schwerer Unfälle, ein heiliger Sonnenstrahl im Leben ihrer Familien, der so unsicher flackert wie der Börsenmarkt. Angenommen, die Eltern lieben sie nicht? Dann werden sie viel zu früh in die Welt hinausgeschickt, gezwungen, für ein paar Pennys dampfende Maiskolben auf dem Broadway zu verkaufen, oder werden von
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