Der Teufel von New York
Hunger und Überlebenswillen zu weit schlimmeren Beschäftigungen verlockt. Oder sie verschwinden vollständig, lösen sich auf wie ein Dufthauch im Wind.
Angenommen, die Eltern sterben, wenn sie noch kleine Schreilinge sind.
Wie das dann weiterging, wusste ich. Und es hätte auch für mich weit schlimmer ausgehen können, das ist mir wohl bewusst, auch wenn ich es nur zähneknirschend zugebe. Hätte Val sich, als ich ein Waisenkind war, nicht um mich gekümmert, wäre ich viel weniger drangsaliert, aber höchstwahrscheinlich früher oder später im Winter in ein flaches Grab gelegt worden. Das ist ein Geschenk, das ich tief in mir trage, ganz tief, und an Tagen, an denen es eigentlich schon beschlossene Sache für mich ist, nach Mexiko zu gehen, wo es keinen Valentine Wilde gibt, rufe ich es mir wieder in Erinnerung. Und dann bleibe ich da. Trotz allem.
Nein, es ist nicht etwa so, dass die Vorstellung, dass ein Kind stirbt, mich schockieren würde. Und leider ist die Tatsache, dass Kinder ermordet werden, ja auch nicht besonders neu. Stellen Sie sich irgendeine schreckliche Sache vor, die unmöglich wahr sein kann, und seien Sie sicher, sie wurde auf der Bühne New Yorks schon öfter mit Applaus und Zugabe aufgeführt, als Sie glauben möchten.
Doch bei diesem Todesfall war es so, dass Mrs. Rafferty in der Woche zuvor den Reverend um Milch für Aidan angefleht hatte. Sie wollte, musste den Hunger ihres Jungen stillen. Litt mit ihm bei jedem flachen Atemzug, bei jedem schwachen Schlag seines Herzens. Sie war für sein Wohlergehen auf die Knie gefallen und hatte erst in dem Moment innegehalten, als ihr Leben nach dem Tode in Gefahr schien und sie zu der Ansicht kam, dass eine Ewigkeit zusammen mit ihrem Kind besser war, als drei Tage lang frische Milch zu haben.
Und heute – da sie keine Milch hatte und auch keinen Zitronensaft, der ihren Verstand vielleicht wieder zu Kräften gebracht hätte, und nicht einmal ein verfluchtes Fenster, Gott allein weiß, was von alledem sie verzweifelter vermisste – hatte sie ebendieses Kind für eine Ratte gehalten. Hinter uns tauchte Mrs. Rafferty in der Tür der Kammer auf, die Nadel immer noch in der Hand. Ihre Finger waren starr.
»Tot isses«, sagte sie. »Ich fürcht mich auch immer vor den Viechern,aber es ist tot, und Sie sind doch schon erwachsne Männer. Warum ham Sie so eine Angst? Eine Schande. Es war doch nur eine Ratte.«
»Gott hab Erbarmen mit Ihnen«, flüsterte der Reverend mit einer Stimme, in der Feuer loderte.
Und daraufhin nahm ich meine achte Festnahme vor.
*
Zwölf Stunden später saß ich an einem verschrammten Holztisch in einer der Amtsstuben in den Tombs, einen Federkiel in der Hand, den die Andeutung einer düsterschwarzen Feder zierte. Bisher hatte ich vor allem das Papier vor mir angestarrt. Ich schrieb nicht. Am liebsten hätte ich mich in der Ecke übergeben. Das hätte wenigstens bewiesen, dass ich fähig war, mich überhaupt zu bewegen, hätte vielleicht der Übelkeit, die ich verspürte, abgeholfen, und doch konnte ich nicht aufhören, vor mich hin zu starren, hätte nicht anfangen können zu schreiben, und wenn mein Leben davon abhinge.
Stattdessen dachte ich über Reverend Underhill nach, fragte mich, ob es ihm wohl besser ging als mir. Der Reverend, der im Alter von elf Jahren eine freudlose Hütte in den Wäldern von Massachusetts mit einem stets in der Ecke bereitstehenden unseligen Knüppel aus Hickoryholz hinter sich gelassen hatte, um sich auf See zu verdingen. Er ist ein penibler und weitgereister Mann, in der ganzen Stadt als unerschrockener Protestant mit einem gierigen und fordernden Verstand bekannt. Seine Gemeindemitglieder sehen in ihm den Schäfer, der dafür sorgt, dass in ihrem Leben alles seine fromme Ordnung hat, und genau das ist er ja auch wirklich. In seinen jungen Jahren als Prediger war er ein Verfechter der Abschaffung der Sklaverei gewesen, denn die Vorstellung der Sklaverei beleidigte seinen Sinn für Logik. Wenn er darüber spricht, redet er von Gerechtigkeit , aber Logik ist das, was er eigentlich meint. Manchmal glaube ich, er kämpft nur deshalb gegen die Armut, weil sie so ungleich verteilt ist,dass es sein ästhetisches Empfinden beleidigt. Das klingt wie ein schwaches Argument, aber nur, wenn Sie ihm noch nie dabei zugesehen haben, wie er eine Orange schält, das ist, als schleife er einen Rohdiamanten.
Ich dachte an das letzte Mal, als ich ihn so blass gesehen hatte – das war kurz nach Olivia
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