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Der Teufel von New York

Der Teufel von New York

Titel: Der Teufel von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lyndsay Faye
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ihr Haar und ihre Haut, hell und gefleckt wie die Eier einer Bachstelze, zeigten eindeutig, dass sie der ersten Generation angehörte. Da Mrs. Boehm im Sechsten Bezirk lebte, hatte sie schon viele solcher Kinder gesehen, und manchmal machten sie tatsächlich Ärger. Oft genug wurde ihnen beigebracht, Privateigentum sei ein Mythos.
    »Nicht irische Kinder.«
    »Ausreißer?« Das verwirrte mich etwas. Würde Mrs. Boehm nicht auch davonlaufen, wenn jemand sie mit Blut besudeln würde?
    Aber sie schüttelte den Kopf, die knochigen Arme verschränkt, die Zigarette zwischen den Lippen. »Keine Ausreißerin. Es ist Ihnen also nicht aufgefallen.«
    »Was sollte mir aufgefallen sein?«
    »Sie ist eine ... wie nennen sie das? Eine Kindermusche.«
    Mir blieb das Brot im Hals stecken. Ich nahm hastig einen Schluck von Mrs. Boehms Gebräu. Dann setzte ich den feuchten Krug ab, stützte die Ellbogen auf dem Tisch auf und strich mir langsam mit den Fingern über die Stirn. Wie hatte ich nur soblind sein können? Auch wenn man erschöpft und hungrig war und gerade einen Alptraum erlebt hatte, war das keine Entschuldigung dafür, mit der Wachsamkeit eines Schoßhündchens durch die Welt zu laufen.
    »Ihr Haar«, stammelte ich. »Aber natürlich, ihr Haar.«
    Mrs. Boehms merkwürdig breiter Mund formte sich zu einem düsteren Lächeln. »Sie schauen sich die Leute offenbar doch gut an. Stimmt genau, ihr Haar ist es.«
    »Es könnte ein Irrtum sein.« Ich lehnte mich zurück und fuhr mit den Finger die Holzmaserung nach. »Vielleicht hat sie ja mit einer älteren Schwester gespielt.«
    Mrs. Boehm zuckte mit den Schultern. Die Geste hatte so viel Gewicht wie ein kunstvoll formuliertes Argument.
    Denn wer, der noch ganz bei Trost war, würde einem kleinen Mädchen die Haare wie bei einer Achtzehnjährigen hochstecken und ihm dann erlauben, ohne Schuhe auf der Straße herumzulaufen? Erwachsene Huren tragen ihr Haar in der Regel offen, denn sie möchten so jung wie möglich aussehen. Sie spazieren auf und ab, die schäbigen Röcke bis zum Nabel aufgeschlagen, die brüchigen, reisigspröden Locken über den Rücken fallend, in der Hoffnung, wenigstens nach außen hin ein paar der Jahre ungeschehen zu machen, in denen sie es mit Messern oder Knüppeln zu tun bekommen haben oder mit irgendeinem anderen Hilfsmittel, das der Mensch so kennt. Bei den Kindern ist es anders. Kindermuschen werden meistens in den Häusern versteckt gehalten. Falls sie aber draußen herumlaufen, so sind sie angemalt, dass sie aussehen wie kleine Gesellschaftsdämchen. Das Haar hochgesteckt wie die Königinnen eines schauerlichen Miniaturballs.
    »Sie meinen, sie ist aus einem Hurenhaus entlaufen?«, fragte ich. »Wenn das stimmt, dann kann sie in eine religiöse Wohltätigkeitseinrichtung, falls sie das möchte, oder wieder auf die Straße gehen, falls nicht. Aber auf keinen Fall kommt sie ins Waisenhaus. Nicht, solange ich da ein Wörtchen mitzureden habe.«
    Das House of Refuge war ein Heim für Waisen, Halbwaisen, obdachlose und straffällige Kinder, im Norden der bevölkerten Stadt an der Ecke Fünfundzwanzigste Straße und Fifth Avenue. Ziel und Zweck dieser Einrichtung war es, die heimatlosen Kinder von der Straße zu holen, wo sie sichtbar sind, und sie hinter verschlossenen Türen, wo sie nicht sichtbar sind, wieder auf den rechten Weg zu bringen. Wobei es eigentlich gar nicht so sehr um den rechten Weg geht als vielmehr um die Frage, ob die Selbstzufriedenheit der New Yorker Oberschicht in irgendeiner Weise bedroht sein könnte vom Anblick hungernder, in Abwasserrinnen zusammengekauerter Sechsjähriger. Ich halte nicht viel von diesem Etablissement.
    Mit beifälligem Nicken lehnte sich Mrs. Boehm vor, wickelte das Wachspapier auf und brach eine Ecke von der dunklen Schokolade ab. Sie aß es gedankenverloren und schob mir den kleinen Schatz hin.
    »Was meinte sie wohl mit: ›Sie werden ihn in Stücke reißen‹?«, fragte ich.
    »Ein Tier vielleicht. Sie geht in den Hinterhof, wo sie ein Lieblingsschwein hat, das Schwein wird getötet, deshalb rennt sie weg. Schlachtblut, denke ich. Vielleicht auch eine Kuh, oder ein Pony mit gebrochenem Bein, das man für die Leimproduktion verkauft hat. Ja, ihr geliebtes Pony. Natürlich werden sie es in Stücke reißen. Das werden wir morgen schon herausfinden.«
    Mrs. Boehm stand auf und griff nach einer Kerze.
    »Morgen habe ich nur eine halbe Schicht«, log ich die freundlichen Knubbel ihrer Wirbelsäule an, die sich

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