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Der Teufel von New York

Der Teufel von New York

Titel: Der Teufel von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lyndsay Faye
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Spiel setzen.
    Mich hätten wohl heftige Schuldgefühle geplagt, dass ich Zeuge einer solchen Szene wurde, hätte ich nicht genau gewusst, worüber sie sich stritten. Wohltätige Damen der Gesellschaft machen sich oftmals nur insofern nützlich, als sie Teegesellschaften, die unter einem bestimmten Motto stehen, oder Limonaden-Soiréen veranstalten, bei denen gefühlsduselig über mögliche Wege diskutiert wird, die Welt vom Laster zu befreien. Doch Mercy fällt nicht unter diese Kategorie. Ich kann sie, ehrlich gesagt, überhaupt keiner spezifischen Kategorie zuordnen, und das, obwohl ich sie immer so genau beobachte. Jedenfalls kommt sie aus einer traditionellen Abolitionisten-Familie, und wenn es wohltätige Menschen gibt, die willens sind, sich die Hände schmutzig zu machen, und zwar zu jeder Tages- und Nachtzeit, zu der man sie ruft, so sind das die Gegner der Sklaverei. Daher grüble ich, anders als der Reverend, nicht lange über die Tatsache nach, dass Mercys Mutter, die von derselben Leidenschaft beseelt war, sterben musste, weil sie ein Krankenzimmer voll siecher Menschen betreten hatte. Ich zwinge Mercy nicht, wieder ans Tageslicht und an die frische Luft zu gehen, wenn ich sehe, dass sie dasselbe tut. Ich sitze das aus, sonst würde sie nie mehr ein Wort mit mir reden.
    Das waren so meine bedrückten Gedanken, als ich um die Hausecke ging. Da schwang die Eingangstür auf, Mercy trat heraus und zog sie anschließend hinter sich zu.
    Völlig grundlos erstarrte ich zu Eis. Einen Augenblick später erging es Mercy ähnlich, der nachschwingende Korb an ihrem Arm markierte die Sekunden. Ich sah, wie ihre Gesichtsfarbe von blass zu blutleer wechselte. Eine winzige Haarsträhne hatte sich an ihrer Unterlippe verfangen. Die meisten hätten sie ihr wahrscheinlich gern aus dem Gesicht gestrichen. Aber das hätte ihren Gesichtsausdruck verdorben, was auch immer er bedeutete.
    »Ich bin auf dem Weg zu den Browns, obwohl ich bei weitem nicht genug Mehl für sie habe«, sagte Mercy hastig. Ganz ohneEinleitung, wie gewöhnlich. »Mr. Wilde, ich habe einen sehr dringenden Besuch zu machen. Sind Sie hier, um mit Papa zu sprechen?«
    Ich schüttelte den Kopf, immer noch sprachlos.
    »Dann begleiten Sie mich bitte in die Mulberry Street, und danach ... können wir gern miteinander reden. Ich fürchte, im Moment bin ich gar nicht zum Reden aufgelegt. Möchten Sie mitkommen?«
    Sie hätte mich genauso gut fragen können, ob ich Lust hätte, für eine Weile einem Aufenthalt in der Hölle zu entrinnen. Ich nickte also. Als sie die Hand auf meinen Arm gelegt hatte und wir die Straße entlangeilten, übermannte mich wie gewöhnlich in ihrer Gesellschaft stille Freude, und alles, was ich sah, kam mir klarer vor, deutlicher. Als betrachte ich es durch eine sanft gewölbte Linse. Ich hatte einen Moment lang fast vergessen, weshalb ich gekommen war. Sie würde niemals mein werden, also dachte ich: Der heutige Tag ist besser als alle Tage, die noch vor mir liegen, denn heute haben wir beide dasselbe vor Augen.
    In der nicht weit entfernten Mulberry Street kam man vor Hitze schier um. Schwarz gewordenes Gemüse floss aus den Kisten in das Pflaster vor den Schankwirtschaften, die Gebäude lehnten sich halb ohnmächtig aneinander. Die Straße war voller Menschen, und niemand war aus freien Stücken hier. Die Nummer 76 war ein Holzhaus, es sah aus, als sei es aus Streichhölzern gebaut und doppelt so schnell entflammbar. Wir gingen hinein und stiegen unverzüglich in den ersten Stock hinauf. Mercy folgte dem Flur bis zum Ende und klopfte dann an die rechte Tür. Auf ein leises Murmeln hin öffnete sie sie und gab mir mit einem Nicken zu verstehen, ich solle im Flur auf sie warten.
    Ich konnte drei Viertel eines kahlen Raumes sehen, in dem es stark nach Siechtum roch und die Luft eine ölige Textur hatte. Zum etwa dutzendsten Mal in meinem Leben musste ich an mich halten, um Mercy nicht einfach mit Gewalt aus dem Krankenzimmer zu zerren. Ich wusste genau, welche Qualen dem Reverendan diesem Morgen zugesetzt hatten. Denn es fühlte sich jedes Mal an, als werde man in zwei Hälften gerissen.
    Drei Kinder saßen auf den nackten Dielenbrettern. Das jüngste war wohl zwei Jahre alt, obwohl der Junge vielleicht auch einfach nur unterernährt war, er war nackt und hatte vier Finger in den Mund geschoben. Zwei schätzungsweise acht und zehn Jahre alte Mädchen in gestreiften Baumwollkleidchen säumten Taschentücher ein. Vom Bett ertönte eine

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