Der Thron von Melengar: Riyria 1 (German Edition)
Mauern des eigenen Königsschlosses passieren? Es mag ja vorkommen, dass ein König ermordet wird. Und es mag durchaus auch vorkommen, dass ein Prinz entführt wird. Aber beides in ein und derselben Nacht, unmittelbar nacheinander? Wie ist das möglich?«
Im Saal wurde es still, da alle die Ohren spitzten.
»Wie ist es nur möglich, dass zwei Mörder unbemerkt in das Schloss eindringen, den König erstechen und dann, nachdemsie gefasst und in den Kerker geworfen wurden, entfliehen konnten? Das ist als solches schon unglaublich, weil die Zelle, in der sie eingesperrt waren, von tüchtigen Soldaten bewacht wurde. Und weil sie nicht nur eingesperrt, sondern obendrein mit Hand- und Fußeisen festgekettet waren. Doch noch unfassbarer ist, dass die beiden nach ihrem wundersamen Entkommen aus dem Kerker nicht schnellstens geflohen sind! Nein! Obwohl ihnen bekannt war, dass sie für ihr abscheuliches Verbrechen am nächsten Morgen bei lebendigem Leib ausgeweidet und gevierteilt werden sollten – zweifellos ein überaus grässlicher und schmerzhafter Tod –, verweilten die beiden Mörder in einem Schloss, in dem Hunderte Soldaten bereitstanden, sie wieder in ihren Kerker zu werfen. Statt um ihr Leben zu rennen, brachten sie den Prinzen, die bestbewachte und wichtigste Person im ganzen Schloss, in ihre Gewalt und entführten ihn! Ich frage Euch noch einmal, wie war das möglich? Haben die Schlosswachen geschlafen? Waren sie so durch und durch unfähig, dass sie die Mörder des Königs einfach davonspazieren ließen? Oder kann es sein, dass jemand den Meuchlern geholfen hat?
Wäre ein Wachsoldat dazu in der Lage gewesen? Ein ausländischer Spion? Selbst ein am Hof bekannter und angesehener Baron oder Graf? Nein! Keiner von ihnen hätte die Befugnis gehabt, den Kerker zu betreten, um die Königsmörder auch nur zu sehen, geschweige denn zu befreien. Nein, edle Herren, niemand im ganzen Schloss hätte ohne weiteres in diesen Kerker gelangen können, außer einer Person – Prinzessin Arista! Die Tochter des Opfers – wer hätte es ihr verwehren können, den Männern, die ihren Vater so brutal ermordet hatten, ins Gesicht zu spucken? Nur dass sie nicht dort war, um die Mörder zu demütigen, sie war dort, um ihnen zu helfen, das Werk, das sie selbst in Auftrag gegeben hatte, zuvollenden!«
Ein Raunen ging durch die Menge.
»Das ist ein Unding!«, protestierte ein alter Mann von der Gerichtstribüne aus. »Dem armen Mädchen die Schuld am Tod ihres Vaters zu geben … Ihr solltet Euch schämen! Wo ist sie denn? Warum ist sie nicht hier, um diese Behauptungen zu widerlegen?«
»Graf Valin«, sprach ihn der Rechtsgelehrte an, »es ist uns eine Ehre, Euch heute hier unter uns zu haben. Dieses Gericht wird die Prinzessin in Kürze hereinrufen. Sie ist während der Darlegung der Fakten nicht anwesend, weil dies eine ermüdende Angelegenheit ist, die das Gericht der Prinzessin nicht zumuten will. Außerdem können die Zeugen auf diese Weise freier sprechen als in Gegenwart ihrer künftigen Königin, was Arista ja wäre, sollte sie für unschuldig befunden werden. Und es gibt noch weitere, gravierendere Gründe, auf die ich zu gegebener Zeit eingehen werde.«
Das schien zwar an Graf Valins Empörung nichts zu ändern, aber immerhin sagte er nichts mehr und setzte sich wieder hin.
»Das Hochgericht von Melengar ruft Reuben Hilfred als Zeugen auf.«
Der Rechtsgelehrte schwieg, während der kräftige Soldat, auch jetzt in Kettenhemd und Falken-Wappenrock, vor das Gericht trat. Seine Haltung war stolz und aufrecht, seine Miene eher widerwillig.
»Hilfred«, sprach ihn der Rechtsgelehrte an, »welchen Posten hast du hier in Schloss Essendon inne?«
»Ich bin Prinzessin Aristas persönlicher Leibwächter«, erklärte er mit lauter, klarer Stimme.
»Sag, Reuben, welches ist dein militärischer Rang?«
»Ich bin Wachfeldwebel.«
»Das ist doch für einen Gemeinen ein recht hoher Rang?«
»Es ist eine angesehene Position.«
»Wie hast du es zu diesem Rang gebracht?«
»Man hat mich aus irgendeinem Grund dafür ausgewählt.«
»Aus irgendeinem Grund? Irgendeinem?«, wiederholte der Rechtsgelehrte lachend. »Verhält es sich nicht so, dass dich Hauptmann Wylin zur Beförderung vorgeschlagen hat, und zwar aufgrund deiner langjährigen unerschütterlichen Treue zur Krone? Und verhält es sich darüber hinaus nicht so, dass dich der König selbst zum Leibwächter seiner Tochter ernannte, nachdem du Arista unter Einsatz deines
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