Der Thron von Melengar: Riyria 1 (German Edition)
den Zeugenstand verlassen, als der Rechtsgelehrte noch einmal anhob. »Oh, Verzeihung – ein letzter Punkt noch. Hast du die Prinzessin jemals um ihren getöteten Vater oder Bruder weinen gesehen oder gehört?«
»Sie ist ein sehr zurückhaltender Mensch.«
»Ja oder nein?«
Hilfred zögerte. »Nein, habe ich nicht.«
»Ich bin bereit, den Kerkeraufseher in den Zeugenstand zu rufen, um Hilfreds Aussagen zu untermauern, falls das Gericht dessen Darstellung der Geschehnisse für unglaubwürdig erachtet«, erklärte der Rechtsgelehrte dem Gericht.
Die Richter berieten sich flüsternd, dann antwortete der Vorsitzende: »Das ist nicht nötig. Wir erachten die Aussage des Wachfeldwebels für aufrichtig und werden sie nicht in Zweifel ziehen. Ihr mögt fortfahren.«
»Ich bin sicher, Ihr alle hier seid genauso konsterniert, wie ich es war«, wandte sich der Rechtsgelehrte in mitfühlendem Ton direkt an die Gerichtstribüne. »Viele von Euch kennen sie persönlich. Wie konnte dieses liebenswürdige Mädchen den eigenen Vater und den eigenen Bruder gewaltsam aus dem Weg räumen? Nur um auf den Thron zu kommen? Das sieht ihr doch gar nicht ähnlich, oder? Ich bitte Euch um ein wenig Geduld. Der Grund wird gleich ersichtlich werden. Das Gericht ruft Bischof Saldur als Zeugen auf.«
Blicke von der Empore suchten den Raum ab, hefteten sich auf den alten Mann, der sich jetzt langsam erhob und in den Zeugenstand ging.
»Euer Gnaden, Ihr wart oft hier im Schloss. Ihr kennt die königliche Familie ausgesprochen gut. Könnt Ihr etwas Licht in die Motive Ihrer Hoheit bringen?«
»Edle Herren«, wandte sich Bischof Saldur in seinem üblichen warmen, bescheidenen Ton an das Gericht. »Ich wache seit vielen Jahren über die königliche Familie, und diese Tragödie ist schrecklich und tieftraurig. Die Anschuldigungen des Großherzogs gegen die Prinzessin zu hören, schmerzt mich, denn ich empfinde fast wie ein Großvater für das arme Mädchen. Dennoch darf ich die Wahrheit nicht verschweigen, dieda lautet … sie ist gefährlich.«
Erneut ging ein heftiges Raunen durch den Saal.
»Ich kann Euch versichern, sie ist nicht mehr das sanfte, unschuldige Kind, das ich einst in den Armen zu halten pflegte. Ich habe sie gesehen, mit ihr gesprochen, ihre Trauer – oder vielmehr ihre nicht vorhandene Trauer – um ihren Vater und ihren Bruder miterlebt. Ich muss Euch ehrlich sagen, ihr Hunger nach Wissen und Macht hat sie dem Bösen verfallen lassen.« Der Bischof legte den Kopf in die Hände und schüttelte ihn, sah dann mit schmerzerfüllter Miene wieder auf und sagte: »Das kommt dabei heraus, wenn eine Frau studiert und wie in Aristas Fall in die finsteren Praktiken der Schwarzen Magie eingeführt wird.«
Ein kollektiver leiser Aufschrei durchschnitt das gebannte Schweigen.
»Gegen meinen Rat erlaubte ihr König Amrath, die Universität zu besuchen, wo sie sich dem Studium der Hexerei verschrieb. Sie öffnete sich den Mächten der Finsternis, und es weckte die Gier nach Macht in ihr. Das Studium pflanzte die Saat des Bösen in sie ein, und diese Saat ging auf und erblühte in den grässlichen Morden an ihrem Vater und ihrem Bruder. Sie ist keine Prinzessin dieses Königreiches mehr, sondern eine Hexe . Das zeigt sich allein schon darin, dass sie nicht um ihren Vater geweint hat. Als gelehrter Bischof der Kirche weiß ich nämlich: Hexen können nicht weinen.«
Die Menge schnappte erschrocken nach Luft. Braga hörte irgendwo auf der Empore einen Mann sagen: »Wusste ich’s doch!«
Der Rechtsgelehrte rief Comtesse Amril als Zeugin auf, und diese sagte aus, dass sie vor zwei Jahren von Arista verhext worden sei, nachdem sie Junker Davens erzählt habe, dass die Prinzessin in ihn verliebt sei. Amril schilderte, wiesie daraufhin tagelang an schrecklicher Übelkeit und Eiterpickeln gelitten habe.
Als Nächste wurden die Mönche in den Zeugenstand gerufen, und auch sie schilderten empört, was ihnen die Prinzessin angetan hatte. Obwohl sie ihr versichert hätten, dass das nicht nötig sei, habe sie darauf bestanden, dass die Diebe losgekettet würden. Und prompt seien diese über sie hergefallen, kaum dass die Prinzessin draußen gewesen sei.
Die schockierten Äußerungen im Saal wurden lauter, und selbst Graf Valin schien bestürzt.
Percy Braga beobachtete von seinem Platz ganz hinten auf der Gerichtstribüne aus befriedigt das Publikum. Die Gesichter der Adligen waren zornerfüllt. Er hatte es geschafft, den Funken zur
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