Der Thron von Melengar: Riyria 1 (German Edition)
hasste Royce den Schnee als solchen nicht. Er mochte es, wenn die Unterstadt ein elegantes weißes Kleid trug. Aber die Schönheit hatte ihren Preis: Im Schnee blieben Fußspuren zurück, was die Arbeit sehr erschwerte. Hadrian hatte recht: Wenn das hier abgeschlossen wäre, würden sie genug Geld haben, um sich in eine ausgiebige Winterruhe zurückzuziehen. Mit so viel Geld konnten sie sogar daran denken, ein legales Geschäft aufzumachen. Dieser Gedanke beschäftigte ihn jedes Mal, wenn sie groß absahnten,und er und Hadrian hatten schon öfter über dieses Thema gesprochen. Vor einem Jahr hatten sie ernsthaft erwogen, eine Weinkellerei aufzumachen, dann aber doch befunden, dass so ein Laden nicht ganz zu ihnen passte. Das war immer das Problem. Keiner von ihnen konnte sich irgendein legales Gewerbe vorstellen, das für sie das Richtige wäre.
Vor dem MEDFORDHAUS am Ende der Schiefen Straße, gegenüber der DORNIGEN ROSE , blieb er stehen. Das Haus war fast so groß wie das Wirtshaus, und Gwen erwog sogar, beide baulich so zu verbinden, dass die Gäste vom einen ins andere gelangen konnten, ohne Wind und Wetter und den Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt zu sein. Gwen DeLancy war ein Genie. Royce war noch nie jemandem wie ihr begegnet. Sie war unglaublich clever und intelligent und dabei so ehrlich und aufrichtig, wie er es noch nie bei jemandem erlebt hatte. Gwen war für ihn ein Paradoxon, ein unlösbares Rätsel: Sie war ein redlicher Mensch.
»Ich dachte mir schon, dass du vorbeikommen würdest.« Gwen trat aus der Tür des MEDFORDHAUSES und legte sich einen Mantel um. »Ich habe von drinnen nach dir Ausschau gehalten.«
»Du hast gute Augen. Die meisten Leute sehen mich nicht, wenn ich durch eine dunkle Straße gehe.«
»Dann wolltest du wohl gesehen werden. Kommst du mich besuchen?«
»Ich wollte mich nur vergewissern, dass du gestern Abend deinen Anteil an dem Geld bekommen hast.«
Gwen lächelte. Royce konnte nicht umhin zu bemerken, wie hübsch ihr Haar im Mondlicht schimmerte.
»Royce, du weißt, ihr braucht mich nicht zu bezahlen. Ich würde auch so alles für euch tun.«
»Nein«, insistierte Royce. »Wir benutzen dein Wirtshausals Basis. Das ist gefährlich für dich, und deshalb bekommst du einen Anteil am Gewinn. Das haben wir doch schon öfter besprochen.«
Sie trat näher an ihn heran und nahm seine Hand. Die Berührung war wohltuend warm in dieser Eiseskälte. »Ich hätte die DORNIGE ROSE nicht, wenn ihr nicht wärt. Wahrscheinlich wäre ich nicht mal mehr am Leben.«
»Keine Ahnung, wovon Ihr redet, meine Dame«, sagte Royce mit einer förmlichen Verbeugung. »Ich kann beweisen, dass ich in der fraglichen Nacht gar nicht in der Stadt war.«
Sie betrachtete ihn, noch immer lächelnd. Es freute ihn, sie so glücklich zu sehen, aber jetzt schienen ihre leuchtendgrünen Augen nach irgendetwas zu forschen, und Royce wandte sich ab und ließ ihre Hand los.
»Hör zu, Hadrian und ich übernehmen diesen Auftrag. Es muss heute Abend passieren, also muss ich –«
»Du bist ein seltsamer Mensch, Royce Melborn. Ich frage mich, ob ich dich je wirklich kennen werde.«
Royce schwieg einen Moment und sagte dann leise: »Du kennst mich bereits besser, als mich irgendeine Frau kennen sollte, besser, als für unser beider Sicherheit gut ist.«
Gwen trat wieder nah an ihn heran; ihre hohen Schuhe knirschten auf dem gefrorenen Boden, und ihre Augen suchten seine. »Sei vorsichtig, bitte.«
»Das bin ich immer.«
Mit windgebauschtem Mantel ging er davon. Sie sah ihm nach, bis er in den Schatten eintauchte und verschwand.
3
Verschwörungen
Die Fahne mit dem gekrönten Falken wehte auf dem höchsten Turm von Schloss Essendon, als Zeichen dafür, dass der König anwesend war. Hier residierten die Herrscher des Königreichs Melengar, das, obwohl weder besonders groß noch besonders mächtig, doch alt war und allseits geachtet wurde. Das Schloss, ein imposanter Bau mit kunstvoll errichteten grauen Mauern und Türmen, stand genau im Zentrum der Hauptstadt Medford mit ihren vier Stadtteilen, dem Hohen Viertel, dem Handwerkerviertel, dem Bürgerwinkel und der Unterstadt. Wie die meisten Städte in Avryn lag auch Medford im Schutz einer hohen Stadtmauer. Dennoch hatte Schloss Essendon zudem seine eigenen Wehranlagen, die es vom Rest der Stadt abteilten. Diese innere Mauer mit einer Brustwehr, wo gutausgebildete Bogenschützen hinter steinernen Zinnen wachten, bildete jedoch keinen vollständigen Ring.
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