Der Thron von Melengar: Riyria 1 (German Edition)
anderen Weg zu nehmen als den Fluss. Gegen die Strömung kann man von der Stadt aus nicht rudern, dafür ist sie im Oberlauf zu stark. Man muss sich in Richtung Meer treiben lassen. Sie weiß genau, wo wir sind und wo wir wann sein werden. Hat sie gesagt, wo ihr mich hinbringen sollt? Ist es ein Ort irgendwo weiter flussabwärts?«
»Am Windermere-See.«
»Ah, die Winde-Abtei? Die ist nicht weit von Roe, und genau dorthin führt dieser Fluss. Wie günstig! Natürlich werden wir dort nie ankommen«, erklärte der Prinz. »Ihre Meuchler werden am Ufer lauern. Sie werden uns töten. Sie wird behaupten, ihr beide hättet mich getötet wie schon meinen Vater. Und dann haben natürlich ihre Wachen euch getötet, als ihr fliehen wolltet. Sie wird ein prächtiges Begräbnis für mich und meinen Vater veranstalten. Und am nächsten Tag wird sie Bischof Saldur rufen, damit er ihre Krönung zelebriert.«
Royce und Hadrian saßen schweigend da.
»Braucht ihr noch mehr Beweise?«, fuhr der Prinz fort. »Ihr sagt, dieser Mann, der euch gedungen hat, hieß DeWitt? Und war aus Calis? Arista ist erst vor zwei Monaten von einem Aufenthalt dort zurückgekehrt. Vielleicht hat sie ja ein paar neue Freunde gefunden. Und ihnen Land in Melengar versprochen, wenn sie ihr helfen, einen lästigen Vater und einen ebenso lästigen Bruder loszuwerden, die zwischen ihr und dem Thron stehen.«
»Wir müssen runter von diesem Fluss«, sagte Royce zu Hadrian.
»Du meinst, er hat recht?«, fragte Hadrian.
»Im Moment ist das egal. Auch wenn er nicht recht hat, wird der Besitzer dieses Boot hier als gestohlen melden. Sobald bekannt wird, dass der Prinz verschwunden ist, wird man beides in Zusammenhang bringen.«
Hadrian erhob sich und blickte flussabwärts. »Ich an ihrer Stelle würde einen Trupp Reiter das Ufer entlangschicken, für den Fall, dass wir irgendwo haltgemacht haben, und einen zweiten so schnell es geht die Westfeltstraße entlang, um uns an Wicends Furt abzufangen. Bis dahin brauchen sie nur drei, vier Stunden.«
»Und das heißt, sie könnten schon dort sein«, schloss Royce.
»Wir müssen runter von diesem Fluss«, sagte Hadrian.
***
Wicends Furt kam in Sicht, eine Stelle, wo das Flussbett plötzlich breit und steinig wurde und das Wasser so flach war, dass man es durchqueren konnte. Bauer Wicend hatte nah am Wasser einen kleinen Offenstall aus Holzplanken gebaut, sodass seine Tiere hier allein weiden und trinken konnten; es war ein hübsches Plätzchen. Dichte Heldabeersträucher säumten das Ufer, und eine Handvoll gelb gewordener Weiden neigten sich so tief über den Fluss, dass ihre Zweige ins Wasser hingen und muntere kleine Strudel erzeugten.
Sobald das Boot ins seichte Wasser kam, ließen am Ufer versteckte Bogenschützen eine Pfeilsalve los. Ein Pfeil traf mit einem dumpfen Schlag den Bug, ein zweiter und ein dritter drangen in das königliche Falkenwappen hinten auf dem Gewand des Prinzen. Die Gestalt in dem Gewand fiel auf den Bootsboden. Weitere Pfeile bohrten sich in die Brust des Mannes am Ruder, der ins Wasser fiel, und in die des Stakers, der einfach nur seitwärts umkippte.
Hinter den Heldabeersträuchern und Weiden sprangen sechs Männer hervor, alle in Braun, Schmutziggrün und Herbstgold gekleidet. Sie wateten in den Fluss, um das dahintreibende Boot einzufangen.
»Jetzt sind wir tot«, verkündete Royce gespielt theatralisch. »Interessant, dass der erste Pfeil Alric getroffen hat.«
Sie lagen alle drei im hohen Gras eines ufernahen Hügels ein Stück vor der Furt, keine hundert Fuß von der Westfeltstraße, die von hier aus immer am Ufer entlangführte bis nach Roe, wo der Fluss ins Meer mündete.
»Glaubt ihr mir jetzt?«, fragte der Prinz.
»Es beweist nur, dass jemand Euch tatsächlich zu töten versucht und dass wir nicht diejenigen sind, die es versucht haben. Es sind auch keine Soldaten, jedenfalls tragen sie keine Uniform. Es könnte also jeder sein«, erklärte Royce.
»Wie kann er das alles erkennen – die Pfeile, die Kleidung? Ich sehe aus dieser Entfernung nur Farben und Bewegung«, sagte Alric.
Hadrian zuckte die Achseln.
Der Prinz trug jetzt die Kleider des Leibdienersohns: eine lose graue Tunika, abgetragene, verschossene Kniehosen, braune Strümpfe und einen zerschlissenen, fleckigen Mantel, der ihm zu lang war. Seine Füße steckten in Schuhen, die kaum mehr waren als in Knöchelhöhe zugebundene weiche Ledersäckchen. Der Prinz war zwar nicht mehr gefesselt, hatte aber um die
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