Der Thron von Melengar: Riyria 1 (German Edition)
Normalerweise habe ich immer hier gesessen und ihm erzählt, wie es seinem Baum geht. Wie viele neue Knospen er hatte oder wann die Blätter anfingen, gelb zu werden oder abzufallen. Die letzten paar Tage musste ich lügen, weil ich’s nicht übers Herz gebracht habe, ihm zu sagen, dass der Baum weg ist.«
Tränen liefen Myron über die Wangen, und seine Lippen bebten, als er zu dem Stumpf hinübersah. »Den ganzen Morgen versuche ich schon, mich von ihm zu verabschieden. Ich …« Seine Stimme versagte, und er wischte sich die Augen. »Ich habe versucht, ihm zu erklären, warum ich jetzt weg muss, aber Renian ist ja erst zwölf, und ich glaube nicht, dass er’s wirklich versteht.« Myron legte das Gesicht in die Hände und weinte.
Hadrian drückte Myrons Schulter. »Wir warten am Tor auf dich. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.«
Als Hadrian aus dem Torbogen kam, fuhr ihn Alric an:»Was dauert denn da so verdammt lange? Wenn er weiter so zu trödeln gedenkt, lassen wir ihn lieber hier.«
»Wir lassen ihn nicht hier, wir warten, bis er so weit ist«, erklärte Hadrian. Alric und Royce wechselten einen Blick, sagten aber nichts.
Nur Minuten später stieß Myron zu ihnen, mit einer kleinen Tasche, die seine ganze Habe enthielt. Er war zwar sichtlich aufgewühlt, doch beim Anblick der Pferde hellte sich sein Gesicht auf. »Oh!«, rief er aus. Hadrian fasste ihn an der Hand wie ein kleines Kind und führte ihn zu seiner Apfelschimmelstute. Das Pferd, dessen mächtiger Körper schwang, als es sein Gewicht von einem Huf auf den anderen verlagerte, blickte aus großen, dunklen Augen auf Myron herab.
»Beißen sie?«
»Normalerweise nicht«, antwortete Hadrian. »Hier, siehst du, man kann dem Pferd den Hals tätscheln.«
»Es ist so … groß «, sagte Myron, Panik im Gesicht. Er schlug sich die Hand vor den Mund, als könnte ihm schlecht werden.
»Bitte steig jetzt einfach auf dieses Pferd, Myron.« Alrics Ton war gereizt.
»Hör nicht hin«, sagte Hadrian. »Du kannst hinter mir reiten. Ich sitze zuerst auf und ziehe dich dann herauf, in Ordnung?«
Myron nickte, aber sein Gesicht sagte, dass nichts in Ordnung war. Hadrian saß auf und streckte dann den Arm hinab. Mit geschlossenen Augen griff Myron zu, und Hadrian zog ihn aufs Pferd. Der Mönch klammerte sich fest und vergrub das Gesicht im Rücken des großgewachsenen Mannes.
»Vergiss nicht zu atmen, Myron«, ermahnte ihn Hadrian, als er das Pferd wendete und im Schritt den Serpentinenweg hinabritt.
Der Tag hatte kalt begonnen, doch dann war es etwas wärmergeworden. Trotzdem war das Wetter nicht so schön wie am Vortag. Sie kamen ins geschütztere Tal hinab und ritten in Richtung See. Noch immer war alles regennass, und das hohe herbstbraune Gras streifte seine Feuchtigkeit an ihren Füßen und Beinen ab. Der Wind kam jetzt von Norden und blies ihnen ins Gesicht. Ein Schwarm Gänse zog schreiend vor dem grauen Himmel dahin. Der Winter nahte. Myron überwand bald seine Angst so weit, dass er den Kopf hob und sich umschaute.
»Großer Maribor, ich hatte ja keine Ahnung, dass Gras so hoch werden kann. Und diese Bäume! Wisst ihr, ich habe so hohe Bäume auf Bildern gesehen, aber ich dachte immer, der Maler hätte einfach keinen Sinn für Proportionen.«
Der Mönch drehte sich nach rechts und links, um alles sehen zu können. Hadrian sagte schmunzelnd: »Myron, du zappelst ja wie ein junger Hund.«
Der Windermere-See sah aus wie flüssiges graues Metall, das sich am Fuß der kahlen Hügel sammelte. Obwohl er einer der größten Seen Avryns war, verbargen doch die gerundeten Felstürme des Ufers das meiste vor ihrem Blick. Die weite Wasserfläche spiegelte den trüben Himmel und wirkte kalt und leer. Bis auf ein paar Vögel bewegte sich nichts auf den zerklüfteten Felsen.
Sie erreichten das Westufer. Myriaden faustgroßer, vom Wasser glatt- und flachgeschliffener Steine bildeten eine Art loses Pflaster, über das sie reiten konnten. Sie lauschten dem leisen Schwappen. Ab und zu regnete es kurz. Sie sahen den Regen über die Seeoberfläche nahen: Der klare Horizont verschwamm, wenn die Tropfen die Reglosigkeit durchbrachen. Dann hörte es wieder auf, während die Wolken über ihnen unentschlossen hin- und hertrieben.
Wie üblich führte Royce die anderen. Als sie sich demNordufer näherten, fand er etwas, das aussah wie die vagen Überreste einer sehr alten, nicht mehr genutzten Straße, die in die nahen Berge führte.
Schließlich hörte Myron
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