Der Thron von Melengar: Riyria 1 (German Edition)
Lebenden richten, sonst wirst du nicht mehr lange Großkanzler von Melengar sein.«
Braga setzte an, etwas zu sagen, atmete dann aber tief durch. »Wirst du nun meine Fragen beantworten oder nicht?«
»Stell sie nur. Ich werde darüber befinden, wenn ich sie gehört habe.« Sie schlenderte wieder zum Kartentisch, setzte sich auf die Kante, kreuzte die Fesseln ihrer langen Beine und studierte ihre Fingernägel.
»Hauptmann Wylin schreibt in seinem Bericht, dass er die Befragung der Kerkerwächter abgeschlossen hat.« Braga standauf und kam um den Schreibtisch herum, sodass er Arista jetzt unmittelbar gegenüberstand. Er konsultierte ein Schriftstück, das er in der Hand hielt. »Er gibt an, dass du bei den Gefangenen warst, nachdem dein Bruder und ich sie verlassen hatten. Er sagt, bei dir seien zwei Mönche gewesen, die man später geknebelt und in den Ketten der Gefangenen vorgefunden habe. Ist das wahr?«
»Ja«, antwortete sie kurz und ohne jede Gefühlsregung. Der Großherzog starrte sie an; das darauf folgende Schweigen zwischen ihnen nahm plötzlich den ganzen Raum ein. »Ich bin eine abergläubische Natur und wollte sichergehen, dass ihnen die letzten Riten zuteilwürden, damit nach der Hinrichtung ihre ruhelosen Geister nicht unter uns zurückblieben.«
»Es heißt hier, du habest befohlen, die Gefangenen loszuketten?« Braga trat einen Schritt auf sie zu.
»Die Mönche sagten mir, die Gefangenen müssten knien. Ich sah darin kein Risiko. Sie waren ja schließlich in einer Kerkerzelle, in deren unmittelbarer Nähe sich eine ganze Armee von Wachen aufhielt.«
»Es heißt hier ferner, du seist mit den Mönchen in die Zelle gegangen und habest die Tür hinter euch schließen lassen.« Der Großherzog machte noch einen Schritt und stand jetzt unangenehm dicht vor ihr. Er studierte ihr Verhalten und ihre Mimik.
»Ist da auch erwähnt, dass ich vor den Mönchen wieder hinausging? Dass ich nicht dabei war, als diese Bestien sie überwältigten?« Arista stieß sich von der Schreibtischkante ab, sodass ihr Onkel einen Schritt zurückweichen musste. Sie glitt grazil an ihm vorbei und trat ans Fenster zum Burghof. Ein Mann hackte dort Holz und stapelte es auf, als Vorrat für den nahenden Winter. »Ich gebe ja zu, es war nicht besondersklug, aber ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass sie fliehen könnten. Es waren doch nur zwei Männer!« Sie sah zerstreut aus dem Fenster; ihr Blick wanderte von dem Holzhacker zu den kahlen Bäumen. »War das alles, was du wissen wolltest? Erlaubt mir der Großkanzler, mich wieder meinen Pflichten als Königin dieses Reiches zu widmen?«
»Gewiss doch, Kind.« Bragas Ton war jetzt wärmer. Die Prinzessin wandte sich vom Fenster ab und ging zur Tür. »Ach, eine letzte Frage noch.«
Arista blieb an der Tür stehen und blickte über ihre Schulter. »Was?«
»In Wylins Bericht heißt es, dass der Dolch, mit dem dein Vater getötet wurde, aus dem Verwahrungsraum verschwunden ist. Hast du eine Ahnung, wo er sein könnte?«
Sie drehte sich um. »Bezichtigst du mich jetzt auch noch des Diebstahls?«
»Ich frage nur, Arista«, erwiderte der Großherzog erbittert. »Du brauchst doch nicht gleich so bissig zu werden. Ich versuche lediglich, meine Arbeit zu machen.«
»Deine Arbeit? Mir scheint, du machst viel mehr als nur deine Arbeit. Nein, ich weiß nichts über den Dolch, und jetzt hör endlich auf, mich mit armselig als Fragen getarnten Anschuldigungen zu belästigen. Sonst wirst du bald sehen, wer hier das Sagen hat!«
Arista stürmte aus Bragas Amtszimmer, und Hilfred musste kurz hinterhertraben, um sich wieder an ihre Fersen heften zu können. Sie marschierte über den Hof, zum Wohngebäude hinüber. Nachdem sie Hilfred angewiesen hatte, unten Wache zu halten, eilte sie die Treppe ihres Turms hinauf, betrat ihr Zimmer, knallte die Tür hinter sich zu und verschloss sie, indem sie sie einmal kurz mit dem Edelstein an ihrer Halskette berührte. Das hier war der einzige Ort, wo sie sich sicherfühlte, an dem sie ihre geheimen Dinge aufbewahren, ihre Zauberpraktiken üben und ihre Träume träumen konnte. Für das Gemach einer Prinzessin war es ein schlichter Raum. Sie kannte die Zimmer der Grafentöchter am Hof, und selbst diejenige unter den Fräulein, die nur eine Baroness war, wohnte luxuriöser. Das Turmzimmer war vergleichsweise klein und karg, aber sie hatte es sich selbst ausgesucht. Sie hätte unter den größeren, prächtiger eingerichteten Zimmern des
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