Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
anhalten, diesmal nicht an einem Kontrollpunkt, sondern wegen eines liegen gebliebenen Lastwagens, der beide Fahrspuren blockierte. Zwei Dutzend Männer in schäbiger Leinenkluft hatten von der Ladefläche steigen dürfen und saßen nun auf der Böschung am Straßenrand.
Beim Anblick der Sträflinge zog Shans Herz sich zusammen. Die meisten waren ausgemergelte Veteranen mit jahrelanger Gulag-Erfahrung und müden, teilnahmslosen Mienen ohne jede Hoffnung. Vereinzelt gab es auch Frischfleisch aus dem Osten, neue Häftlinge, deren Gesichter starr vor Angst waren, nicht wegen der Wachen, sondern wegen ihrer Mitgefangenen, die anschaulich belegten, welches Schicksal ihnen bevorstand.
Shan hatte sich gefragt, weshalb es an jenem Tag so viele Transporte gab, doch nun sah er den kleineren Laster hinter dem ersten. Auf der offenen Ladefläche türmten sich Schaufeln und Hacken sowie stapelweise Körbe, in denen man für gewöhnlich Erde und Steine schleppte. Diese Gefangenen waren zur Zwangsarbeit in den Minen abkommandiert worden, die nur im Sommer öffneten und deren heimtückische tiefe Stollen häufig einstürzten. Andere mussten in den Urangruben schuften, wo die Strahlung dafür sorgen würde, dass nach einem Monat keiner mehr Haare hatte. Dennoch galten sie als die Glücklicheren, denn sie würden unter freiem Himmel arbeiten, und die Wachen blieben meistens auf Abstand, um nicht ebenfalls krank zu werden.
»Bei Buddhas Atem«, rief Jigten. »Sieh dir diese armen Schweine an. Die Hälfte von denen sind wandelnde Skelette.«Er zog eine Zigarette aus der Packung und warf sie einem der spindeldürren Männer zu. Ein anderer Sträfling sprang vor und fischte sie mitten aus der Luft. Mit triumphierender Miene stopfte er sie sich sogleich in den Mund und aß sie.
***
Das ehemalige Kloster, das nun das chinesisch-tibetische Friedensinstitut beherbergte, war aufwendig restauriert worden. Durch das offene Tor konnte man Statuen von Buddha und Mao erkennen, die einander zu beiden Seiten des Innenhofs gegenüberstanden und sich anstarrten – über den eleganten chorten hinweg, den man in der Mitte neu errichtet hatte. Shan und Meng, die hastig erworbene Zivilkleidung trug, saßen auf der anderen Straßenseite vor einem Café. Mönche mit Büchern betraten das Institut. Chinesische Männer und Frauen in moderner Geschäftskleidung gingen dort ein und aus. Tibetische Stadtbewohner suchten die Buddhastatue auf und hängten ihr bisweilen einen traditionellen Gebetsschal über das Handgelenk. In manchen Momenten wirkte das Gelände wie ein klassisches Kloster, in anderen eher wie der geschäftige Gebäudekomplex einer Behörde.
Shan und Meng saßen schweigend an ihrem Tisch, tranken ihren Tee aus und ließen sich vom Kellner eine weitere Kanne bringen. Shan ertappte sich dabei, dass er den Fahrzeugverkehr und das rege städtische Leben musterte. Eine Frau scheuchte ein kleines Mädchen mit Zöpfen über die Straße. Zwei Jungen hatten eine Feder an ein Stück Schnur gebunden und neckten damit einen Welpen. Eine Tibeterin verkaufte aus Plastikeimern, die mit Handtüchern abgedeckt waren, heiße Nudeln und momos , Teigtaschen mit Fleischfüllung. Ein hochgewachsener Tibeter, dessen Kopftuch ihn als khampa auswies, führte einen Esel die Straße hinunter.
»Sie haben erzählt, Sie hätten einen Sohn«, sagte Meng auf einmal. »Demnach sind Sie verheiratet?«
Das gehört zu ihrer Rolle, sagte Shan sich zunächst. Sie spielten hier einen Mann und eine Frau, die zusammen Tee tranken. Dann fiel ihm auf, wie schüchtern sie ihn ansah.
»Nein«, erwiderte er. »Nicht mehr. Niemals, schätze ich.«
»Sie schätzen?«
»Meine Frau hat die Ehe für ungültig erklären lassen.«
»Aber Sie haben einen gemeinsamen Sohn.«
»Wir haben nie mehr als zwei Wochen zusammen verbracht. Sie war in der Partei und wurde in eine andere Stadt versetzt. Als man mich ins Straflager geschickt hat, war sie stellvertretende Bürgermeisterin. Nachdem dann auch noch mein Sohn als Drogendealer verhaftet worden war, war es besser für sie, jegliche Verbindung zu uns abzubrechen.«
»Sie meinen, sie hat sich scheiden lassen.«
»Nein. Das hätte nicht gereicht. Mein Sohn und ich hätten immer noch in ihrer Akte gestanden. Es war politisch zweckdienlicher, einen Richter aus der Partei verfügen zu lassen, dass die Einträge getilgt wurden. Es war, als hätten wir in ihrem Leben nie existiert.«
»Das muss sehr schmerzlich gewesen sein.«
Shan zuckte
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