Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
die Achseln. »Ich hatte genug damit zu tun, Straßen zu bauen und mich von Maiskolben und Sägemehlbrei ernähren zu müssen. Es hat Jahre gedauert, bevor ich auch nur davon erfahren habe.«
Sie nippten an ihrem Tee und vergaßen für eine Weile das Tor.
»Sie müssen doch sicherlich …« Shan wusste nicht, wie er die Frage formulieren sollte.
»Auch verheiratet gewesen sein? Ja«, bestätigte Meng sachlich. »Er hat Literatur und Schauspiel studiert. Und er konnte sehr gut schreiben, aber er fand keinen Job. Also nahm ereine Anstellung in einem anonymen Gebäude an, in dem Texte für die Regierung verfasst wurden. Nachrufe auf die Veteranen der Achten Armee des Langen Marsches. Geschichten über Helden der Arbeit, echte und andere. Er war gut, fand die richtigen Worte, um das Herz des Proletariats zu rühren. Man wurde auf ihn aufmerksam und beförderte ihn. Er fing an, Reden für Funktionäre und Pressetexte für die Partei zu schreiben.«
»Propaganda.« Das Wort rutschte Shan unfreiwillig über die Lippen.
Meng nickte verlegen. »Es hat mir nicht gefallen. Ihm auch nicht, anfangs jedenfalls. Er trank. Die haben ihn weiterhin befördert, und er hat weiterhin getrunken. Zu der Zeit war ich zum ersten Mal Leutnant. Als er nach Peking versetzt wurde, machten sie mich zum Hauptmann und übertrugen mir die Sicherheitsvorkehrungen für Funktionäre. Ich habe ihn gebeten zu kündigen. Ich sagte, er habe seine Seele verkauft und dass er Besseres verdient habe. Er hat mich geschlagen.«
Shan nahm seine Tasse und sah Meng über den Rand hinweg an. Er fragte sich, wie es wohl gewesen wäre, falls er sie so kennengelernt hätte, ohne Kriecher-Uniform.
»Ich habe darum gebeten, von meiner Aufgabe entbunden und in eine andere Stadt versetzt zu werden. Daraufhin wurde ich zurückgestuft und in einen tibetischen Stall geschickt.«
»Einen Stall?«
»So nennt man das bei der Öffentlichen Sicherheit. Offiziere, die in Ungnade gefallen sind, werden nur noch als Arbeitspferde eingesetzt und müssen sich ohne Hoffnung auf Beförderung abmühen. Sie kriegen die Stellen, die sonst keiner will, irgendwo in der gottverlassenen Provinz. Baiyun ist so ein Stall, wenngleich mir gesagt wurde, ich solle es als Rehabilitierung betrachten, weil meine früheren Leistungen so gut gewesen seien, dass ich in vier oder fünf Jahren vielleichtdoch wieder befördert werden könnte. Ein paar Monate nach meiner Ankunft erhielt ich die Papiere, in denen stand, dass mein Mann die Scheidung eingereicht hatte.«
Shan zwang sich, zurück zum Tor zu schauen und nicht in ihre Augen. »Das hätten Sie mir nicht zu erzählen brauchen«, sagte er. Als er wieder hinsah, starrte sie eine Taube an. Sie wirkte wie ein verirrtes junges Mädchen. Shan sah ihre Hand auf dem Tisch und merkte, dass er sie berühren wollte.
Sie registrierte seinen Blick, und ihre Miene verhärtete sich. »Das ist eine Verhörtechnik«, sagte sie und verzog das Gesicht, als hätte sie in etwas Saures gebissen. »Lass den anderen wissen, dass wir alle Genossen im selben mühsamen Kampf sind.«
Dann schwiegen sie wieder für mehrere Minuten und beobachteten das Tor.
»Es gehen Leute hinein, die nicht wieder herauskommen«, stellte Shan fest.
»Da gibt es eine Kapelle. Manche meditieren dort. Das kann ein oder zwei Stunden dauern.«
»Es ist ein Institut«, widersprach Shan. »Die mit den Aktenkoffern wollen dort bestimmt nicht meditieren.«
»Es gibt eine offizielle öffentliche Beschreibung«, sagte Meng und wedelte mit einer Broschüre. Sie hatte sie aus der zwei Blocks entfernten Pension mitgenommen, in der sie sich eingemietet hatten. »Und es gibt offizielle nicht-öffentliche Beschreibungen.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
Sie klappte die Broschüre auf und las vor. »Das chinesischtibetische Friedensinstitut baut Brücken zwischen den Volksgruppen der Han und der Tibeter, die in dieser Region der Volksrepublik leben. Indem wir die Einheit unserer großen Völker lehren, sorgen wir für Glück und sozialistischen Wohlstand in jedem Heim.«
»Sozialistischer Wohlstand«, spottete Shan. »Das wurde nicht von einem Tibeter geschrieben. Und die ersten Han, die hier aufgetaucht sind, haben die Uniformen der Volksbefreiungsarmee getragen. Das hier ist Chamdo, seit jeher die Hauptstadt der Provinz Kham, in der tibetische Krieger mit Musketen von chinesischen Maschinengewehren niedergemäht wurden.« Er runzelte die Stirn und verstand selbst nicht, wieso er Meng
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