Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Eunuch, der viel Einfluss am Hof besaß, zu seiner Zelle und erzählte ihm, der Kaiser wisse von dem korrupten Gouverneur, könne aber nichts gegen ihn unternehmen, weil der Gouverneur sein stärkster Fürsprecher in der Region sei. Daher bitte der Kaiser ihn nun, seinen Bericht zurückzuziehen. Yuan Yi lehnte ab und beharrte stattdessen auf seiner Hinrichtung, um zu untermauern, dass er sich der Wahrheit verpflichtet fühlte.
Am nächsten Morgen brachte man ihn zu einem privaten Tempel, den der Kaiser für Zeremonien nutzte, bei denen seine größten Mandarine geehrt wurden, seine engsten Vertrauten. Dort wartete ein Scharfrichter mit seinem Schwert. Yuan Yi wurde zum Richtblock geführt, doch darauf lag seine Ernennungsurkunde zum Zensor. Der Scharfrichter hieb sie in zwei Teile.«
»Und tötete damit den Zensor«, sagte Shan.
»Ja. Dann trat der Kaiser aus dem Hintergrund hervor und verneigte sich vor Yuan Yi. Das Tor, durch das die Mandarine nach empfangener Ehrung den Tempel verließen, wurde aufgestoßen, und der Kaiser ging mit ihm dorthin. Die Politik hielt ihn davon ab, den Gouverneur zu verhaften, aber seine Ehre verbat es ihm, einen Mann dafür zu töten, dass er dieWahrheit sagte. Als Yuan Yi den Torbogen erreichte, nahm er sein Abzeichen und gab es dem Kaiser. Kangxi verneigte sich und gab es ihm zurück. Dann schritt Yuan Yi durch das Tor und floh aus der Hauptstadt. Er kehrte in die Mandschurei zurück und rief eine Gruppe ins Leben, die anfing, die Karawanen des Gouverneurs zu überfallen. Die erbeuteten Reichtümer verteilte er dann in der ganzen Provinz an bedürftige Familien, an Tempel, an Schulen. Er war für den Rest seines Lebens ein Gesetzloser, aber der Kaiser unterzeichnete keinen einzigen der Haftbefehle, die der Gouverneur ihm zur Genehmigung schickte. Yuan Yi blieb bis zu seinem Tod ein Bandit, der all jenen half, die unter den Schikanen der Korrupten zu leiden hatten.«
»Je älter eine Geschichte ist, desto mehr wird sie ausgeschmückt, Professor.«
Yuan lächelte nur, nahm dann das Handtuch und riss es auseinander. Es waren in Wahrheit zwei Tücher, die man an den Kanten zusammengenäht hatte.
Als Shan sah, was sich dazwischen befand, setzte sein Herz für einen Moment aus. Das war unmöglich.
Yuan hielt den geheimen Schatz hoch, ein seidenes Quadrat mit erlesenen Stickereien. Für Hunderte von Jahren und über mehrere Dynastien hinweg hatte es für die Mandarine des Hofes neun Ränge gegeben, jeder mit einem eigenen Abzeichen, das als quadratisches Stück Stoff über dunkelblauen Zeremoniengewändern getragen wurde. Der Pfau im Zentrum von Yuans Seide war das Emblem des hoch geschätzten dritten Ranges. Rund um den Vogel waren Wolken, Pfingstrosen und Fledermäuse angeordnet, die dem Inhaber traditionell Glück bringen sollten. Yuan hielt das Abzeichen in der Hand, das sein Vorfahr vor knapp drei Jahrhunderten getragen hatte und das von der Hand eines Kaisers berührt worden war.
»Ein geringerer Mann hätte es verbrannt, nach allem, wasder Kaiser getan hatte«, verkündete der Professor. »Doch Yuan Yi hat es als Zeichen der Ehre behalten. Er sagte, er sei in erster Linie dem Volk verpflichtet und werde dieses Abzeichen aufbewahren – für all jene, die der Wahrheit dienten, ganz gleich, was die Regierung befahl. Meine Familie hat einen seiner Briefe gehütet, mehr als zweihundert Jahre lang, bis die Roten Garden ihn verbrannt haben. Mein Vater hat ihn mir oft vorgelesen. Yuan Yi hat als alter Mann an einen Enkel geschrieben. In dem Brief hieß es, das Wichtigste, was er je getan habe, sei der Schritt durch jenen Torbogen gewesen, das Mandarin-Tor, und sein größter Beitrag zum Wohl des Volkes habe darin bestanden, die Regierung zu verlassen.«
Shans Hand zitterte, als Yuan ihm das seidene Abzeichen reichte. »Meinem Vater hätte der Anblick eines solchen Gegenstands die Sprache verschlagen«, sagte er. »Und mir fast auch.« Mit klopfendem Herzen nahm er das Abzeichen und dessen kunstvolle Ausführung genauer in Augenschein und erkannte nun auch Schmetterlinge, eine Sonne und eine dunkle Verfärbung, die womöglich ein uralter Blutfleck war.
»Mein Großvater hat dieses Abzeichen in der Hand gehalten und die Prozessionen der Hofbeamten vor dem Kaiser beschrieben«, erklärte Yuan. »Ich konnte die Augen schließen und die Trommeln hören und den Weihrauch riechen.« Als Shan es ihm zurückgeben wollte, hob er eine Hand. »Es gehört vorübergehend Ihnen. Ich leihe es
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