Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Trauer eine zu schwere Last. Shan half ihm auf die Beine und reichte ihm seinen Tee. Das heiße Gebräu weckte Lokeshs Lebensgeister, und während er daran nippte, sah er den Toten an und neigte seinen Kopf erst auf die eine und dann auf die andere Seite, als würde er etwas lauschen, das Jamyang von sich gab. Genau wie Shan war er immer noch vollkommen bestürzt über das, was sich am Schrein zugetragen hatte.
»Wir können nicht drei Tage mit ihm hier bleiben«, sagte Shan und meinte damit die überlieferte Frist, die von den meisten Tibetern bei den Riten eingehalten wurde. »Im Tal ist Polizei. Es werden noch viel mehr kommen.«
Lokesh nickte ernst. »Hirten waren hier.« Seine Stimme war trocken wie Reisig. »Sie werden vor Mitternacht mit Pferden und einem Maulesel zurückkehren. Bis zu den Knochenebenen ist es fast ein Tagesritt.« Er meinte das versteckte Hochplateau in den Bergen, wo die ragyapas , die traditionellen Leichenzerleger, die Toten in Stücke zerteilten und an die Geier verfütterten. Die uralte Konvention des Himmelsbegräbnisses wurde von der Regierung strikt abgelehnt und war – wie so viele tibetische Bräuche – in die Illegalität gezwungen worden.
»Du musst mit ihnen gehen«, sagte Shan. »Bleib dort oben, und beende die Riten.«
Doch Lokesh hörte ihm nicht zu. Er strich über das Einschussloch in Jamyangs Stirn. »Das ist nicht, wie es sein sollte«, sagte der alte Tibeter, wischte erneut über die Wunde und beobachtete sie erwartungsvoll. »Wir sollten nach einigen der Weisen schicken. Die wissen bestimmt, wie man ihn herausruft.«
Shan musterte seinen alten Freund, der vor der Invasion der Chinesen als Beamter in der Regierung des Dalai Lama gearbeitet hatte. Er kannte niemanden, der so häufig wortlos kommunizierte wie Lokesh, und wenn er etwas sagte, schien er oft in Rätseln zu sprechen. Als er nun sah, dass Lokesh mit hohler Hand etwas von dem duftenden Wacholderrauch über das Einschussloch verteilte, begriff er endlich. Die alten Tibeter glaubten, dass die Seele eines Menschen nach dessen Tod desorientiert in der leblosen Hülle verweilte und letztendlich ihren natürlichen Weg nach draußen durch eine winzige Öffnung im Schädeldach fand. Alte Lamas rissen einem Toten häufig die Haare am Scheitel aus, um den Weg frei zu machen.Doch Jamyangs Schädel hatte nun zwei neue und unnatürliche Löcher.
»Sein Geist war sehr konzentriert«, wandte Shan ein.
»Nein«, widersprach Lokesh bedächtig und zutiefst überzeugt. »Er hat sich selbst getötet. Was bedeutet, dass etwas von seinem Geist Besitz ergriffen hatte. Es hat sich um ihn gewickelt wie eine Schlange. Es ist immer noch da. Wir müssen es vertreiben.« Seine Finger berührten sanft die Seite von Jamyangs Gesicht und hielten über dem Muttermal an seinem Unterkiefer inne, das wie eine Lotusblüte aussah, eines der heiligen Symbole.
Shan wollte etwas einwenden und Lokesh irgendwie trösten, aber er wusste, dass sein Freund – ganz gleich, was Shan sagte – noch wochenlang unter diesen Seelenqualen leiden würde. Und vielleicht lag Lokesh mit seiner Behauptung, ein böser Geist habe den Lama befallen, gar nicht mal so falsch. Denn gewiss hatte ihn irgendetwas Böses gequält und in den jähen Selbstmord getrieben. Auch über das alte Kloster war an jenem Tag das Böse hereingebrochen, und insgesamt vier Menschen hatten einen gewaltsamen Tod erlitten. Der logische Teil von Shans Verstand teilte ihm mit, dass die Ereignisse unmöglich miteinander in Beziehung stehen konnten. Doch die Instinkte des ehemaligen Ermittlers sagten ihm das Gegenteil.
»Mehr Polizei im Tal?«, fragte Lokesh auf einmal, als hätte er Shans Warnung erst jetzt gehört.
Shan schloss kurz die Augen. Er war sich nicht sicher, ob er die Kraft aufbringen würde, Lokesh von den Vorfällen im Kloster zu erzählen. Der alte Tibeter verspürte schon genug Schmerz; Shan wollte nicht noch mehr dazu beitragen.
Er wurde sich bewusst, dass sein Freund den Dienst an dem Leichnam unterbrochen hatte und ihn anstarrte. »Du wolltest die Nonnen holen«, stellte Lokesh treffend fest.
Shan hatte das Gefühl, eine schwere Last zu tragen. »Ich wollte im Kloster um Hilfe bitten. Stattdessen habe ich Leichen gefunden.« Die Worte schienen schon beim Sprechen in seiner Kehle zu brennen. »Dort wurden drei Menschen ermordet.«
Lokesh sagte nichts, sondern behielt die feuchten Augen fest auf eine der kleinen Bronzegottheiten neben Jamyangs Bettstatt
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