Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
gerichtet, während Shan ihm schilderte, was im Kloster vorgefallen war. Damals im Straflager waren Lokesh und die ältesten Lamas inmitten all der Schrecken stets Quellen heiterer Gelassenheit gewesen und hatten den neuen Gefangenen gesagt, die unmenschlichen Bedingungen ihrer Haft seien lediglich eine Prüfung ihres Glaubens. Sie waren Shan wie Felsen in einem Meer aus Folter und Entbehrungen vorgekommen. Doch wenn eine Brandung jahrelang anhält, kann sogar der härteste Fels bersten. Zum ersten Mal seit Shan ihn kannte, lag Verzweiflung im Blick seines Freundes. Als Shan mit seinem Bericht fertig war, fand Lokesh noch immer keine Worte, sondern entzündete nur etwas Weihrauch auf Jamyangs kleinem Altar und nahm wieder die Bardo-Rezitation auf. Es brach Shan das Herz, die Hand des alten Mannes zittern zu sehen, wo vorher kein Zittern gewesen war, und seine Stimme bei Worten stocken zu hören, die er schon unzählige Male gesprochen hatte.
Als die Hirten eintrafen, stand der Mond hoch am Himmel. Sie weigerten sich, mit Shan zu reden, und ließen nicht zu, dass er ihnen half, Jamyangs Leichnam in ein Tuch zu hüllen und auf dem Rücken des Maulesels zu verzurren. Lokesh hatte sich immer tiefer in sich selbst zurückgezogen. Er war zu einem alten, gebrechlichen Wesen geworden, das Hilfe brauchte, um auf den Rücken des Pferdes zu steigen, das die Hirten für ihn mitgebracht hatten. Als Shan sich von ihm verabschiedete, reagierte er nicht.
Shan stieg auf den Kamm oberhalb der Hütte und beobachtete die einsame Karawane auf ihrem Weg durch das mondbeschienene Tal. Dann blickte er zu den Sternen empor und bemühte sich, seine aufgewühlten Gefühle in den Griff zu bekommen. Schließlich rollte er sich vor der kleinen Hütte auf einer Decke zusammen, fand aber nur unruhigen Schlaf, der von abscheulichen Träumen heimgesucht wurde. Wagenladungen von Uniformierten ergossen sich als Folge der Morde in das Tal. Bauern wurden gewaltsam aus ihren Heimen vertrieben. Als ein Schlagstock sich erhob, um auf Lokesh niederzusausen, schreckte Shan stöhnend hoch. Er blieb wach und starrte in den Himmel. Bei Tagesanbruch war er zurück in Jamyangs Höhle.
Das Rätsel hinter dem Selbstmord fing mit dem Rätsel der Pistole an. Er legte die Waffe auf einen flachen Felsen in die Sonne. Sie war bemalt worden, und zwar nicht nur mit einer Lotusblüte, sondern auch mit Bildern einer heiligen Muschel und eines Fisches. Aber warum? Hatte Jamyang wirklich vorgehabt, die Waffe irgendwie zu neutralisieren, wie Shan anfangs geglaubt hatte, oder sollte sie für ihren geplanten Einsatz geweiht werden? Es war eine kleine Halbautomatik, wie Polizisten und Soldaten sie als Dienstwaffe trugen. Der Privatbesitz einer solchen Waffe galt überall in China als schweres Verbrechen, doch wenn ein Tibeter der Besitzer war, würde er nicht nur als Straftäter, sondern als Verräter behandelt werden. Es schien unmöglich zu sein, dass Jamyang an eine solche Waffe gelangt war, ohne von ihrem rechtmäßigen Eigentümer verhaftet zu werden, und ebenso unmöglich, dass ein anderer Tibeter sie ihm gegeben hatte. Aber Shan hätte sich auch nicht vorstellen können, dass der Lama wissen würde, wie man eine Pistole bediente. Trotzdem hatte Jamyang sie im letzten Moment seines Lebens wie ein geübter Schütze genommen und in einer flüssigen Bewegung erst den Sicherungshebel umgelegtund dann den Abzug gedrückt. Shan nahm die Pistole und überprüfte das Magazin. Es war leer. Jamyang hatte nur eine einzige Patrone zurückbehalten.
Als Shan versucht hatte, ihn vor den Gefahren im Tal zu warnen, hatte Jamyang seine Worte wiederholt. Dir ist nicht immer klar, wie riskant es ist . Nur ein einziges Mal, und zwar erst letzte Woche, hatte Jamyang sich nach Shans Vorgeschichte erkundigt und überraschend großes Interesse an dessen Jahren als Ermittler gezeigt. Hatte der Lama ihn deshalb in seinen letzten Momenten bei sich haben wollen? Hatte er die Feier geplant, um Shans Erscheinen auf jeden Fall zu sichern? Hatte er Shan indirekt gebeten, das Geheimnis sowohl seines Todes als auch der drei Morde im Tal zu ergründen? Jamyangs Gesicht stieg vor ihm auf, mit genau der rätselhaften, fragenden Miene wie auch bei den Pilgerschreinen. Einen Moment lang war es so real, dass Shan beinahe die Hand nach dem Schmutzfleck ausgestreckt hätte, wo die Stirn des Lama den Boden berührt hatte. Wir haben vier Milliarden Jahre benötigt, um dahin zu kommen, wo wir sind , hatte er
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