Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Verletzung. Der Hund sah ihr mit wachem, intelligentem Blick dabei zu. »Er beißt nur Chinesen«, erklärte Lesha sachlich. Dann hielt sie kurz inne. »Erist vor sechs Jahren als Welpe zu mir gekommen, saß plötzlich vor meiner Tür.«
Shan lächelte verlegen und tätschelte den Kopf des Hundes, der ihn daraufhin aus großen feuchten Augen ansah. »Wie heißt er denn?«
Die alte Frau warf Shan einen verärgerten Blick zu, als habe er nicht richtig zugehört. »Das ist Ugen, wer denn sonst?«
KAPITEL SECHZEHN
Strahlend goldene Klauen erstreckten sich über den Abendhimmel, als würde ein Drache sich aus dem heiligen Berg erheben. Shan saß vor der Hirtenhütte und hatte Zweige auf dem Boden angeordnet. Ein fünfzehn Zentimeter langer Zweig über zwei kürzeren Zweigen und darunter noch mal die gleiche Abfolge, so dass auf eine durchgehende Linie eine durchbrochene, eine durchgehende und noch eine durchbrochene Linie folgte. Es war eines der Tetragramme, die auf Abschnitte des Tao-te-king verwiesen. Sein Vater hatte sie ihm einst beigebracht. Langsam und wohlerwogen nahm er das Tetragramm nun auseinander und legte es erneut, nahm es auseinander und legte es erneut, als wäre es eine Meditationsübung. Es bezog sich auf Kapitel elf, das Nutze, was nicht da ist genannt wurde. Darin hieß es: Ton wird zu einem Topf geformt. Was nicht da ist, macht den Topf nutzbar. Mach dir zu eigen, was da ist, indem du nutzt, was nicht da ist.
Shan hatte Jamyang nicht nur einmal missverstanden. Er missverstand ihn wieder und wieder. Anfangs war er für Shan nur ein einsamer, ehrfurchtsvoller Einsiedler gewesen. Dann hatte er in ihm einen Lama gesehen, der sich aus rätselhaften Gründen im Exil befand, oder einen Pilger, der Buße tat. Doch er war außerdem ein Bürokrat im Mönchsgewand gewesen, ein Funktionär, der mit Computern umgehen konnte. Einer der Agenten, die Tibet von innen aushöhlen sollten. Erwar all das gewesen und zugleich nichts davon. Shan hatte angenommen, Jamyang habe mit den Handlungen seiner letzten Tage einen Plan verfolgt, doch es waren lediglich Reaktionen gewesen. Er hatte übersehen, was nicht da war, dabei hätte es alles erklärt.
Die Erkenntnis war ihm nur allmählich gekommen, ein kleines dunkles Ding, das an seinen Eingeweiden nagte, seit sie Jamyangs Dorf verlassen hatten. Manche der alten Lamas waren fest davon überzeugt, dass Seelen Geräusche machten, dass alte Eremiten, die jäh etwas begriffen, lange Silben heulten, die Berge erzittern lassen konnten. Bei Shan war zuerst das Geräusch ertönt, nämlich Dakpos qualvolles Stöhnen im Haus von Jamyangs Tante. Mittlerweile war ihm klar, dass diese Reaktion des Mönches alles verändert hatte. Dakpo hatte plötzlich alles durchschaut – und war zusammengebrochen –, als Lesha den Mann mit der silbernen Glocke erwähnte.
Shan hingegen hatte das Phantom stets übersehen, jenen Schatten, der ihm stets einen Schritt voraus und niemals da war. Es war nun an der Zeit, zu nutzen, was nicht da war.
Er stand auf und traf die Amerikanerin bei dem kleinen Feuer an, auf dem sie ihr Abendessen gekocht hatten. »Ich verstehe Ihren Wunsch nach Schweigen, Cora«, sagte er. »Aber es muss ein Ende haben. Ich möchte Ihnen helfen, aber nun müssen Sie mir behilflich sein.«
Die Amerikanerin rang sichtlich nach Worten. Es gab Tage, sagte Lokesh, an denen sie überhaupt nicht sprach. »Ich weiß keinen Ausweg«, sagte sie schließlich. »Außer Lokesh und Chenmo kann ich niemandem trauen. Aber wir können uns kaum verständigen.« Sie lächelte verbittert.
»Sie können auch mir vertrauen, Cora. Und wir beide können uns verständigen. Gemeinsam werden wir den Mörder aufhalten. Und dafür sorgen, dass Sie nach Hause zurückkehren können.«
»Ich hätte tot sein müssen. Ich weiß, dass die alten Tibeter sagen, man solle nicht mit seinem Schicksal hadern, sondern es bereitwillig annehmen. Ich hätte an jenem Tag auch sterben müssen.«
»Nein. Es war Ihnen vorherbestimmt, dass Sie überleben, denn Sie sind unsere Möglichkeit, den Killer aufzuhalten und Botschaften in die Außenwelt zu tragen.«
»Ich habe immer solche Angst.«
»Ich habe in Tibet vieles gelernt«, sagte Shan zu der Amerikanerin. »Zum Beispiel auch, dass es in deinem Leben nicht darum geht, was andere dir antun, sondern was du dir selbst antust.«
»Der Mörder will auch meinen Tod, oder etwa nicht?«
»Ich werde Sie nicht belügen. Aber Lokesh und seine Freunde haben mich gelehrt,
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