Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
dass die eigenen Entscheidungen nicht durch die Grausamkeit von anderen bestimmt werden dürfen.«
»Ich weiß nicht, wer der Mann war. Bloß ein Mönch.«
»Es ist ein Puzzle, Cora. Ich kenne einige der Teile, Sie kennen einige der Teile. Wir müssen sie zusammenfügen. Ich hätte Ihnen schon längst eine Frage stellen müssen: Ist Jamyang erst kurz vor den Morden zu Ihnen und Rutger gekommen?«
Die Amerikanerin schürte die erlöschende Glut mit einem Ast. »Zwei Wochen vorher. Mit Chenmo. Das war seltsam, denn bis dahin war er stets auf Abstand geblieben, als wäre er sehr schüchtern. Er hat sich sogar von den anderen Mönchen ferngehalten. Rutger hat gesagt, der Grund müsse sein, dass er als Einsiedler irgendein Gelübde abgelegt habe.«
»Er ist zu Ihrem Lagerplatz gekommen?«
Cora nickte. »An dem Abend war er kein Einsiedler. Er hat gesagt, er habe gehört, dass wir Aufnahmen der Restaurierung gemacht hätten. Und er hat gefragt, ob es die Art von Aufnahmen wäre, die man sich auf dem Display der Kamera anschauen kann. Also haben wir sie ihm gezeigt. Rutger hatteChenmo mehrmals gebeten, Jamyang zu fragen, ob er uns bei der Identifizierung mancher der alten Bilder auf den Wänden und Artefakten helfen könne. Eine Göttin, die Laute spielt. Ein dreiköpfiger Buddha. Ein löwenköpfiger Gott. Wir dachten, er wäre deswegen gekommen, und er hat unsere Fragen ja auch beantwortet. Aber interessiert hat er sich für Fotos der Mönche, die bei den Arbeiten im Kloster geholfen hatten. Er hat gefragt, ob wir ihre Namen wüssten, und wir haben ihm erklärt, dass wir unsere Anwesenheit geheim gehalten und nicht mit ihnen gesprochen hatten.«
»Was ist dann passiert? Hat er sich für einen von denen besonders interessiert?«
»Er hat die Kamera genommen und durch die Bilder gescrollt. Bei einem hat er angehalten und ist ganz still geworden. Es war, als hätte er sich mächtig erschrocken.«
»Was war auf der Aufnahme? Was hat ihm solche Angst eingejagt?«
Cora zuckte die Achseln. »Mönche, Mönche«, wiederholte sie. »Wir sind um die halbe Welt gereist, um Mönchen zu helfen. Aber nun weiß ich, dass wir Mönche fürchten müssen.«
»Hat Rutger der Äbtissin davon erzählt?«
»Sie ist später zu Rutger gekommen. Sie war ganz begeistert von dem, was wir vorhatten, nämlich das Internierungslager zu fotografieren. Sie hat uns ermutigt, hat uns Informationen über die Abläufe im Lager gegeben und uns gefragt, ob wir auch ehemalige Gefangene in unsere Kameras stecken würden, falls sie uns welche brächte. Das waren ihre Worte. In unsere Kameras stecken. Sie sagte, wir müssten unbedingt erfahren, was in diesen Lagern vor sich geht.« Cora brach ab, biss sich auf die Lippe und schaute in die Glut. Einen Moment lang glaubte Shan, sie würde wieder weinen. Sie hatte am eigenen Leib erlebt, was in so einem Lager geschah, war sogar in eines der Leichentücher des Lagers gehüllt gewesen.
»Am Tag vor Rutgers Tod ist sie noch mal zu uns gekommen. Sie hat gesagt, es gäbe etwas Neues, und er könne ein anderes Geheimnis von Peking filmen. Rutger dachte, er solle zum Kloster gehen und Aufnahmen von jemandem machen, der in einem dieser Zwangsarbeitslager gelitten hatte.« Sie stocherte in der Glut und blickte den Funken hinterher, die in den sich verdunkelnden Himmel flogen.
»Was sollten Sie mit den Fotos machen, nachdem Jamyang sie gesehen hatte? Hat er Sie um irgendwas gebeten?«
»Er hat gesagt, wir müssten sie sicher aufbewahren.«
»Und?«, fragte Shan. »Haben Sie sie sicher aufbewahrt?«
»Natürlich. Rutger hat besondere Aluminiumkästen. Wasserdicht, sogar feuerfest.«
Shan erinnerte sich an die leeren Behälter, die er am Lagerplatz vorgefunden hatte. Sie waren nicht dämonensicher gewesen.
***
» Om mani padme hum «, sagte Meng und stieß die Gebetsmühle an. »Ist es nicht das, was sie sagen?«
Shan nickte. Er war sich nicht sicher, weshalb sie ihn gebeten hatte, sie zu der Klosterruine zu begleiten. Was sie miteinander zu besprechen hatten, mochte nicht für die Ohren der Polizei bestimmt sein, aber man brauchte auch nicht meilenweit zu fahren, um ein ruhiges Plätzchen zu finden. »Das ist die Anrufung des Mitfühlenden Buddhas«, erklärte er und zeigte ihr die Worte, die in erhabener Schrift auf dem Rand des Bronzezylinders standen. »Mit jeder Umdrehung wird das Gebet wiederholt.«
Sie nickte merkwürdig ernst und drehte die Mühle erneut, dann noch einmal. »Ich bin seit Jahren in
Weitere Kostenlose Bücher