Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Tibet und habe mich nie bemüht, mehr über solche Dinge zu erfahren«, sagte sie.
Die Säuberungstrupps der Polizei hatten gründlich gearbeitet. Es gab hier kein gelbes Absperrband mehr, das auf einen Tatort hingedeutet hätte, keine rote Farbe und kein Blut. Draußen neben dem Tor war ein frischer Sandhaufen abgekippt worden, dazu Eimer und Kübel. Die Fußspuren verrieten, wo man den Sand rund um den chorten ausgestreut und geharkt hatte. Sogar der herausgefallene Stein am Fuß des chorten war zurück in das Loch gesteckt worden, wenngleich er sich schon wieder einen Weg nach draußen zu bahnen schien.
»Hier war es«, sagte Meng. »Hier wurde die Äbtissin getötet. Die Erste, die an jenem Tag gestorben ist.« Sie strich mit der Hand die Mauer entlang, als versuche sie sich ins Gedächtnis zu rufen, wo der Bogen aus Farbspritzern gewesen war. Dann legte sie die Hand flach auf die Mitte, wo das Blut die Wand befleckt hatte. Man hatte die Oberfläche abgeschrubbt und frisch gestrichen. Jeder im Tal gab sein Bestes, um die Morde auszulöschen.
»Lung Ma ist als Erster gestorben«, korrigierte Shan sie. »Er war der Gefährlichste. Er hat eine Waffe getragen.«
Shan führte sie zum hinteren Teil des Geländes und stellte sich an das zerfallende Tor. »Der Mönch hat sein Fahrrad draußen abgestellt, versteckt zwischen den Felsen«, sagte er langsam und ließ dabei den Blick über die Landschaft schweifen. »Er hat sich Zeit gelassen und jeden seiner Schritte genau bedacht. Die Äbtissin hatte ihm eine Nachricht geschickt, hatte behauptet, sie wolle über Dharamsala sprechen. Jeder Tibeter kennt das Wort, es ist wie ein Code. Wenn man darüber spricht, dann nur im Geheimen. Doch mit diesem Mönch hatte sie noch nie darüber geredet. Er dachte, es sei eine Warnung, denn er hatte hinsichtlich der Exilhauptstadt sein eigenes Geheimnis. Er war misstrauisch. Ich glaube, er hat das Kloster vom Hügel aus beobachtet und Lung mit dem Lastwagenankommen gesehen. Es gab für ihn keinen nachvollziehbaren Grund, aus dem die Äbtissin und Lung miteinander zu tun haben könnten. Lung wusste von dem geheimen Plan, den Killer über die Grenze zu schmuggeln. Die Äbtissin kannte das Geheimnis des seltsamen Lama, der schon eine Weile hier in der Gegend war und von dem der Mörder inzwischen wusste, dass er eine Gefahr für seine Pläne darstellte.«
Shan ließ die Worte wirken und führte Meng zu der kleinen Kapelle, in der die Bauern ihre Werkzeuge aufbewahrt hatten. »Aus irgendeinem Grund glaubte er, die Äbtissin wolle ihn in eine Falle locken, also hat er sich von der Rückseite genähert und das Überraschungsmoment zu seinem Vorteil genutzt.« Shan trat ein und zeigte Meng die Kultursichel, die er dort gefunden und zurückgelassen hatte. »Er hatte keine Waffe, aber er wusste von den schweren Klingen, die hier lagen. Lung war vorn am Tor, hat in Ruhe eine Zigarette geraucht und sich überlegt, von wo aus er schießen würde, sobald der Mann das Gelände betrat. Die Äbtissin allein hätte den Mann niemals töten, sondern ihn nur konfrontieren wollen, um ihn zu beschämen. Doch Jamyang war sich sicher, dass er an jenem Tag einen Mord zu verantworten hatte. Er wusste, dass der Anführer der Jadekrähen eine Pistole trug, und er hatte ihm gesagt, wer seinen Sohn umgebracht hatte. Jamyang hatte die Äbtissin dazu benutzt, den Mönch mit ihrer Nachricht herzulocken, und er wollte Lung dazu benutzen, den Mönch zu töten.« Das war die letzte große Pein, die Jamyang gequält hatte. Der Lama war überzeugt gewesen, er hätte einen Mord herbeigeführt. Er hielt diesen Mord für unbedingt nötig, aber für ebenso nötig hielt er es, sich deshalb das eigene Leben zu nehmen. Der Killer musste also vorsichtig und auf alles gefasst sein. Er hat die Kultursichel genommen und sich im Schutz der Gebäude an der gegenüberliegenden Mauer entlanggeschlichen. Die Äbtissin hat an der Gebetsmühle gearbeitetund ihm den Rücken zugewandt. Der Deutsche hat ihr geholfen.« Sie folgten nun beide dem Pfad, den Shan vorgab, bis zu der Ecke des vorderen Gebäudes, an der man die große Blutlache gefunden hatte. »Er hat Lung mit einem einzigen Hieb fast den Kopf von den Schultern geschlagen. Dann hat er Lungs Pistole genommen.«
»Warum hier vorn?«, fragte Meng. »Warum hat Lung angenommen, der Mann würde das vordere Tor benutzen?«
Shan zögerte. Er hatte den Punkt bisher übersehen. »Weil er nicht mit einem Fahrradfahrer oder Fußgänger
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