Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
gerechnet hat.«
»Du meinst, er hat jemand mit einem Wagen erwartet«, folgerte Meng. »Einen Mönch mit Zugang zu einem Wagen. Wie viele Mönche in dem Kloster können überhaupt Auto fahren?«
»Wahrscheinlich nur eine Handvoll«, räumte Shan ein. »Vielleicht bloß ein oder zwei.«
Nun ging Meng voran, zurück in Richtung der Gebetsmühle. »Er hat Lung getötet, lässt den Leichnam erst mal liegen und geht zu der Äbtissin. Rutger war wohl nur zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort.«
»Nein, Rutger wusste Bescheid. Die Äbtissin hatte um sein Kommen gebeten. Jamyang hatte nur sie und Lung einkalkuliert, mehr war für ihn nicht nötig. Die Äbtissin würde dafür sorgen, dass der Mönch herkam, und Lung würde dann an ihm Rache nehmen. Doch Jamyang hatte die Empörung der Äbtissin unterschätzt. Sie hatte eine eigene Waffe mitgebracht. Ihr war klar, was die Ausländer machten, und sie wusste, wie schmerzlich es für die Regierung wäre, falls ihr geheimer Plan in der Öffentlichkeit bloßgestellt würde. Also hat sie Rutger samt seiner Kamera eingeladen. Der Deutsche war sich des Risikos nicht bewusst. Ein Fotograf neigt dazu, seine Kamera als einen Schutzschild zu betrachten.
Die Äbtissin und Rutger waren zusammen an dieser Stelle. Vermutlich hat er Fotos von ihr bei der Arbeit an der Gebetsmühle gemacht. Der Mörder ist einfach zu ihnen gegangen, hat Rutger mit einem schnellen Schuss außer Gefecht gesetzt und sofort danach die Äbtissin erschossen. Als er sah, dass Rutger noch lebte, hat er ihn zu dem chorten gezerrt, ihn mit der Sichel erledigt und ihm dann das Gesicht abgetrennt, damit man ihn nicht auf Anhieb identifizieren konnte.«
»Und das Mädchen war die ganze Zeit hier«, sagte Meng.
Shan nickte. »Immer in Rutgers Nähe. Sie hat hinten in einer der Kapellen gezeichnet. Und sie musste mit ansehen, wie der Killer seine Arbeit abgeschlossen hat.«
Sie gingen weiter und schwiegen bedrückt, als würden sie die Anwesenheit des Mörders spüren.
Meng blieb stehen und legte die Hand auf den bröckelnden Putz einer Kapelle. »Es heißt, diese alten Ruinen seien voller Geister«, sagte sie leise.
Shan zögerte. Dann erkannte er, dass sie genau an der Stelle standen, an der sie sich zum ersten Mal begegnet waren. »Hier haben jahrhundertelang Menschen gelebt«, wiederholte er seine Erwiderung von damals. »Sie haben hier gelebt und sind hier gestorben.«
»Es war bestimmt gar kein so schlechtes Leben«, sagte Meng nach einem Moment und klang dabei merkwürdig sehnsüchtig. »Wie in einer großen frommen Familie. Ich hatte Onkel, die immer in den Tempel gegangen sind.«
Shan sagte nichts.
»Ich habe nachgedacht, Shan«, sagte sie plötzlich mit einem scheuen Blick. »Ich könnte eine Anstellung als gewöhnliche Polizistin bekommen. Das Gehalt wäre niedriger, aber ich würde im Bezirk bleiben und müsste nicht befürchten, anderthalbtausend Kilometer weit weg versetzt zu werden.«
Er wusste, wie schwer ihr diese Worte gefallen sein mussten.Das war der Grund, aus dem sie mit ihm hergekommen war. Er lächelte angespannt. »Da ist immer noch ein Mörder auf freiem Fuß.«
Er war sich nicht sicher, ob Meng ihn gehört hatte. Sie fuhr mit einem Finger die verblassten Umrisse des Auges nach, das neben der Tür aufgemalt war. »Ich weiß noch, wie ein Lehrer mal zu uns gesagt hat, das Auge des Vorsitzenden sei stets auf uns gerichtet. Aber wir wussten, dass er tot war. Es hat uns Angst gemacht. Das hier war anders, glaube ich.«
»Das hier ist anders«, sagte er.
Sie blickte mit ernster Miene auf. »Verspüre ich deshalb das Bedürfnis, nach draußen zu gehen, wenn wir weiter über Mörder reden müssen?«
Shan war verwirrt, als sie einfach wegging. Dann begriff er, dass sie außerhalb des Klosters meinte, nicht auf heiligem Boden.
Fünf Minuten später entfaltete sie eine Landkarte auf der Motorhaube ihres Wagens.
»Das Geheimnis der Morde ist eigentlich nur das Geheimnis von Jamyang«, sagte sie. »Ich habe darüber nachgedacht, wie er wohl hergekommen ist. Er wurde auf der Schnellstraße nach Lhasa gesehen. Er war unterwegs zum Kloster Drepung. Hunderte von Mönchen. Tausende von Touristen. Der geeignete Einsatzort für einen Absolventen des Friedensinstituts. Doch nachdem er mit seiner Tante gesprochen hatte, hasste er sich selbst und was man aus ihm gemacht hatte.«
Sie zeigte auf der Karte nach Osten und Norden. »Vielleicht hat er versucht, eine Möglichkeit zur Heimkehr zu
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