Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
gesagt.
Plötzlich war die Vision weg, und Shan sah nur noch die Pistole. Er starrte die Waffe bekümmert an, stand schließlich auf, entfernte sich mit ihr dreißig Meter von dem Schrein und vergrub sie unter einem flachen Stein neben einem Strauch Heidekraut.
Die Gottheiten auf der Felswand schienen seinen Blick zu erwidern, als er sich vor ihnen niederließ, und sahen ihn trübsinnig und fragend an. Er musste an die erste Begegnung mit Jamyang denken. Lokesh und er hatten den Lama auf einem einsamen Pfad im oberen Tal dabei überrascht, wie er versuchte, eine mani -Mauer wiederaufzubauen. Bevor sie ihn auch nur grüßen konnten, war Jamyang schon wie ein scheues Wildtier davongehuscht. Daraufhin hatten Lokesh und Shan selbst eine Stunde an der Mauer gearbeitet und gehofft, erwürde begreifen, dass sie ihm nichts Böses wollten. Seine Blicke hatten sie die ganze Zeit gespürt, aber er hatte sich nicht wieder vorgewagt. Eine Woche später, als Shan den Schreien eines Hirtenmädchens gefolgt und in ein Treibsandbecken gesprungen war, um ihr Lamm zu retten, war Jamyang dann unversehens aufgetaucht und hatte Lokesh geholfen, Shan und das Tier in Sicherheit zu ziehen. Er erinnerte sich an das schüchterne Lächeln auf Jamyangs Gesicht und dessen Lachen, als Lokesh gewitzelt hatte, Shan sehe wie eine der aus Schlamm geformten Opferfiguren der Nomadenfamilien aus. Danach hatten sie Jamyang häufiger auf den hohen Pfaden gesehen. Manchmal winkte er ihnen wie ein alter Freund zu, manchmal beobachtete er sie schweigend dabei, wie sie einen Graben säuberten, oder blieb sogar eine Weile in ihrer Nähe, um zu meditieren. Shan hatte das schon häufiger erlebt. Tibeter, vor allem jene ab einem gewissen Alter, lernten einander bisweilen kennen, indem sie gemeinsam schwiegen. Er wusste noch, wie zufrieden der Lama ausgesehen hatte, als er sie schließlich zu den Gottheiten mitnahm, die er voller Ehrfurcht restaurierte, und welch große Freude es ihm gemacht hatte, von Lokesh zu erfahren, dass ein ganz ähnliches Relief einst an der Außenwand einer vor langer Zeit zerstörten Privatkapelle des Dalai Lama in Lhasa existiert habe.
Lokesh hatte vorgeschlagen, sie könnten die verblassten und von zähem Schmutz bedeckten Gemälde auf dem Fels oberhalb des Reliefs säubern, und sie hatten sich zu dritt an die Arbeit gemacht. Während der folgenden Wochen brachten sie viele Stunden damit zu, und gelegentlich hallte die Luft von den Freudenschreien der beiden Tibeter wider, wenn ihre vorsichtigen Bemühungen die Bilder fast vergessener Götter freilegten. Die Bänke, die als Altäre dienten, waren erst später hinzugekommen, um Platz für die Opfergaben der Hirten und Bauern zu bieten. Die Menschen brachten so viele, dassJamyang einen Teil davon im Hintergrund der flachen Höhle unter einem Stück Segeltuch gelagert hatte.
Shan ging an den Altären entlang, berührte manche der Gaben und hielt inne, als erst eine, dann noch eine ihn daran denken ließ, wie Jamyang oder Lokesh begeistert ihre kunstvolle Ausführung gepriesen hatte. Ein alter silberner Federkasten mit Türkisintarsien. Ein kleiner Jadedrache, der eher chinesisch als tibetisch aussah. Eine Bronzestatuette des Mitfühlenden Buddhas mit Edelsteinbesatz am Sockel. Ein purba – der kurze, stachelähnliche Dolch der tibetischen Zeremonien. Eine dicke Jadescheibe mit breiter Rinne in der Mitte und eingemeißelten Blumen am Rand, die merkwürdig vertraut aussahen, zweifellos der Sockel einer fehlenden Statue. Shan nahm den purba . Jemand hatte ein schmales braunes Band daran befestigt. Der Dolch hatte wochenlang auf dem Altar gelegen, da aber noch ohne Band. Shan spielte unschlüssig an dem Band herum und fragte sich, weshalb es ihm so bekannt vorkam. Er nahm an, dass Jamyang es dort befestigt hatte, während sie kurz vor seinem Tod die Opfergaben gereinigt hatten. Der Lama hatte dafür das Werkzeug gewählt, das im Ritual zur Zerteilung des Bewusstseins diente. Shan legte es beunruhigt wieder hin und ging dann zu dem Haufen unter dem Segeltuch, weiter hinten im Schatten. Die Kriecher würden den Schrein letzten Endes entdecken, und auch der Dieb würde sicherlich zurückkehren. Die Schätze mussten in Sicherheit gebracht werden.
Shan hob die Plane an. Oben auf dem Haufen lagen die mit Bändern verschnürten Druckstöcke, die Jamyang dem Dieb wieder abgenommen hatte. Shan hatte sie hier noch nie zuvor gesehen. Das Band. Er schaute zurück zu dem purba . Das Band daran
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