Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
nicht mehr. Statt der alten Häuser standen an der Kreuzung eine Tankstelle, ein Teehaus und ein kleines Lebensmittelgeschäft, und an die Stelle der Nebengebäude und Äcker waren einige weitgehend identische Wohnblöcke aus Betonziegeln und Gipsputz mit Wellblechdächern getreten.
Shan fuhr langsam an einem eingezäunten Gelände vorbei, in dessen Mitte ein flacher Plattenbau stand. An einem Metallmast flatterte die chinesische Flagge. Daneben standen zwei Polizeiwagen geparkt, eine verbeulte Limousine mit den Insignien der örtlichen Polizei und einer der grauen Geländewagen, wie die Öffentliche Sicherheit sie bevorzugte. Das Stadtzentrum schien völlig verlassen zu sein; auf dem kleinenverstaubten Platz stand lediglich eine der Fiberglasstatuen des Großen Steuermanns, die man derzeit überall in Tibet errichtete. Shan fragte sich, wieso hier eine so unnatürliche Stimmung herrschte. Nirgendwo waren Kinder zu sehen. Der einzige Besucher des Parks war ein einsamer Hund, der dasaß und die Statue anstarrte.
Shan verlangsamte auf Schrittgeschwindigkeit und parkte vor dem letzten Häuserblock. Er hatte sich gerade zu Fuß auf den Rückweg zum Platz gemacht, als ihm eine Menschenansammlung auf dem Feld hinter den Häusern auffiel. Unter einem langen Blechdach, das ohne Seitenwände auf Pfeilern aus Betonziegeln ruhte, wurden Schafe und Yaks gehandelt. Ein Dutzend tibetische Verkäufer hatte neben dem Pavillon Decken im Gras ausgebreitet und bot Waren an. Auf der anderen Seite des Feldes stand ein verwitterter Stall aus Steinen und Holzbalken – das einzige noch existierende Gebäude der alten Höfe.
Shan schlenderte am Rand der Menge entlang und musterte die Tibeter auf diesem behelfsmäßigen Markt. Eine alte Frau mit einem Gesicht wie runzliges Leder verkaufte Nudelsuppe. Ein fast zahnloser Mann in einer zerlumpten Jacke bot Yakbutter in alten Konservendosen an, sowie zweieinhalb Zentimeter große, aus Ton modellierte Gottheiten. Shan kaufte etwas Weihrauch und zwei der kleinen Gottheiten, dann lehnte er sich an einen der Pfeiler des Pavillons und ließ den Blick in die Runde schweifen. Auf einer der Decken saß eine Frau mit einem breitkrempigen Hut und hatte lange Spulen gesponnener Wolle im Angebot. In dem Moment tauchte neben ihr aus der Menge ein Mann mit struppigem Haar und schmutziger Fellweste auf und führte ein junges Mutterschaf zum Stall. Shan zog sich schnell zurück und umrundete das Gebäude.
Er wartete, bis der Hirte das Tier in der hinteren Box angebunden hatte, trat dann aus dem Schatten vor und blockierteden Eingang. »Du hinkst nicht mehr so stark wie beim letzten Mal«, stellte er beiläufig fest.
Die Augen des Hirten weiteten sich überrascht. Er schaute zu der quadratischen Fensteröffnung in der Wand, als wolle er die Flucht ergreifen.
»Jamyang hatte noch andere Artefakte. Ein Jadesiegel. Einige mit Edelsteinen besetzte Figuren«, sagte Shan. »Aber du hast sie dagelassen und diese schweren Tafeln geschultert. Warum?«
»Schwarzmarkt«, sagte der Mann mit gesenktem Blick. »Touristen kaufen solches Zeug.«
»Die Touristen in Tibet wollen tibetische Dinge«, widersprach Shan. »Kleine Gegenstände, die im Koffer verstaut werden können.«
Der Mann zuckte die Achseln. »Manche Außenseiter brauchen andere Sachen. Lebensmittelkonserven. Decken.«
Shan war verwirrt. Außenseiter. Ausländern war der Besuch des Bezirks Lhadrung strengstens untersagt. »Wie heißt du?«
Der Hirte machte einen Schritt zur Seite, als überlege er sich, an Shan vorbeizurennen. »Ich bin ein ehrbarer Bürger.«
»Ich kann auch auf den Markt gehen«, sagte Shan. »Nach fünf Minuten weiß ich deinen Namen. Und alle anderen werden dann wissen, dass jemand von den Behörden nach dir sucht.«
Die Augen des Mannes verengten sich. Er wirkte wie ein in die Enge getriebener Wolf.
»Tenzin Gyalo«, sagte er.
»Nein. Du bist nicht der Dalai Lama.« Shan kam einen Schritt näher. »Du bist ein Hirte, der von der Herde abgekommen ist.«
Die Worte schienen den Mann für einen Moment aus dem Konzept zu bringen. Er sah zu den Tieren in der Box und wirkte dabei regelrecht wehmütig. »An den Markttagen helfeich manchmal aus. Es ist gut, wieder mit den Tieren zu arbeiten.« Er machte unterdessen noch einen Schritt zur Seite, täuschte nach links an und lief dann rechts an Shan vorbei.
Als Shan herumwirbelte und die Verfolgung aufnehmen wollte, steckte jemand dem Mann einen Schaufelstiel zwischen die Beine. Der
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