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Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Titel: Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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stammte ursprünglich von den Druckstöcken, als hätte der Lama Shans Aufmerksamkeit darauf lenken wollen. Lokesh und er waren zuletzt vor zwei Wochen hier gewesenund hatten bei der Reinigung von allem geholfen, einschließlich der Gegenstände in der kleinen Höhle. Zu dem Zeitpunkt waren die Druckstöcke noch nicht darunter gewesen. Shan trug sie hinaus ins Licht des frühen Morgens, legte sie auf das Ende einer Bank und löste die Verschnürung. Dann klappte er sie auseinander, um ihre Inschriften zu lesen. Schockiert und ungläubig hielt er inne.
    Das waren keine Druckstöcke. Sie waren in der Tat alt, in der Tat heilig, aber sie waren nicht tibetisch. Zitternd vor Aufregung fuhr er mit einem Finger die eingeschnitzten Schriftzeichen entlang. Eine der beiden Tafeln war mit einer einzelnen vertikalen Linie chinesischer Ideogramme eines sehr alten Stils versehen, die andere mit den gleichen Symbolen und zusätzlich kleinen Legenden zu beiden Seiten. Shan blickte zum Altar auf und begriff, wieso die Jadescheibe so vertraut gewirkt hatte. Er holte sie. Dann tat er etwas, das er zuletzt in seiner Jugend getan hatte: Er presste die beiden Bretter aneinander, diesmal aber mit der Schrift nach außen, und steckte ihre Enden in die Rinne der Scheibe. Sie passten perfekt und wurden durch den schweren Standfuß aufrecht gehalten. Das hier war, so unglaublich es auch scheinen mochte, eine chinesische Ahnentafel. In der fernen, verlorenen Welt von Shans Kindheit hatte er Familienschreine besucht, in denen reihenweise derartige Tafeln standen, eine jede versehen mit dem Namen eines toten Vorfahren. An Festtagen wurden sie von den lebenden Verwandten ehrfürchtig gereinigt, und dann wurden Gebete über sie gesprochen. Die alten taoistischen Priester hatten erklärt, die Tafeln dienten als Behausungen für die Seelen der Verstorbenen. Shan hatte seit Jahren, sogar seit Jahrzehnten keine mehr gesehen. Er würde niemals den Tag vergessen, an dem die Roten Garden die Familienschreine seines Wohnviertels geplündert und aus den Tafeln einen großen Scheiterhaufen errichtet hatten. Eine alte Witwe aus seinerStraße war untröstlich gewesen und hatte gesagt, die Kommunisten hätten die Seelen ihrer Vorfahren eingeäschert.
    Yuan Yi, stand auf der Tafel, Mandarin dritten Ranges, sei im neunundfünfzigsten Jahr des Kaisers Kangxi gestorben. Auf der anderen Seite war zudem der Ort seines Begräbnisses in der Provinz Heilongjiang verzeichnet. Shan rechnete kurz nach. Der Mandarin von sehr hohem kaiserlichen Rang war im Jahr 1721 gestorben und in den kalten Bergen der fernen Mandschurei bestattet worden. Jamyang hatte sein kostbarstes buddhistisches Artefakt für eine dreihundert Jahre alte chinesische Geistertafel hergegeben. Shan ließ die Begegnung mit dem Dieb noch einmal Revue passieren. Der Mann hatte die Tafeln fest umklammert gehalten und schien bereit gewesen zu sein, um sie zu kämpfen. Vielleicht hatte Shan die Situation falsch verstanden. Der hinkende Hirte hatte womöglich gar nicht vorgehabt, Jamyang wegen des Kopfgeldes zur Polizei zu locken, sondern er wollte die Tafeln in die Stadt schaffen. Als Jamyang den Dieb gestellt hatte, waren die Tafeln ihm wichtiger gewesen als die von seinem Altar gestohlenen Gegenstände.
    Es schien undenkbar, dass der sanfte, ehrfurchtsvolle Tibeter, der sich vor den chinesischen Behörden verbarg, ein chinesisches Artefakt verstecken und beschützen würde. Was hatte Shan in Bezug auf Jamyang sonst noch missverstanden? Die unregistrierten Mönche lebten wie in einem Spionagenetzwerk; keiner von ihnen kannte die Aufenthaltsorte und Vorgeschichten der anderen, damit sie im Falle einer Ergreifung nicht zur Preisgabe gezwungen werden konnten. Die Kriecher bezeichneten solche Mönche als Verräter. Da sie nicht mit den chinesischen Behörden kooperierten, galten sie per definitionem als Revisionisten, als verabscheuungswürdige Verfechter eines unabhängigen Tibet. Es verstand sich stets von selbst, dass solche Männer Geheimnisse hatten, aber die von Jamyang hatten zu Gewalt und Tod geführt.
    Shan starrte die Ahnentafel an. Dieses Geisterbrett eines seit dreihundert Jahren toten chinesischen Beamten konnte doch unmöglich etwas mit Jamyangs Tod zu tun haben. Der Lama hatte den Selbstmord sorgfältig geplant und seine letzten Stunden in Andacht verbringen wollen. Dann aber hatte er diese Pläne über den Haufen geworfen und war dem Dieb gefolgt, als müsse er vor seinem Tod unbedingt die Tafel

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