Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
zurückerlangen. Shans Verwirrung war wie ein körperlicher Schmerz. Je länger er über Jamyangs letzten Tag nachdachte, desto weniger Sinn ergab alles. Er notierte sich die Inschriften von beiden Seiten der Ahnentafel und verstaute die Bretter wieder in der Höhle. Dann nahm er den kleinen Jadedrachen. In den Sockel war ein kompliziertes Siegel eingraviert. Shan tauchte es in den Wassereimer unter der Bank und drückte es auf das trockene Holz. Yuan Yi. Der nasse Abdruck war der Name des seit langem toten Mandarins. Shan stellte den Drachen zurück auf die Bank. Das kleine Jadegeschöpf rief in ihm eine seltsame Unruhe wach.
Die Hütte des Lama war die eines wahren Asketen. Auf einem Regal über seiner Bettstatt stand eine Blechtasse mit einer Zahnbürste. Neben einem kleinen persönlichen Altar mit einem Gipsbuddha und Räuchervasen lag ein abgenutztes Brett, auf dem Jamyang stundenlang gesessen und meditiert hatte. In der Ecke, die als provisorische Kochnische diente, gab es ein gesprungenes Emaillebecken, die Kohlenpfanne, einen fast leeren Sack Gerste, einen kleinen Teeziegel und einen der kleinen Holzeimer, in denen die Hirten Butter transportierten.
Die Hirten. Einer von ihnen hatte Jamyang ursprünglich zu dem entlegenen, vernachlässigten Schrein gebracht, der nahezu vollständig von Ranken und Unkraut überwuchert gewesen war. Und es waren hauptsächlich fromme Hirten gewesen, die zu Besuch kamen, um sich von dem Lama segnen zu lassen,und ihn manchmal sogar baten, den Namen für ein neugeborenes Kind auszuwählen. Doch ein anderer Hirte hatte die Artefakte gestohlen, ein verbitterter, hinkender Hirte mit einer Narbe auf der Stirn. War der Dieb tatsächlich mehr daran interessiert gewesen, die Tafel in die neue Siedlung zu schaffen, als eine Belohnung für Jamyang einzustreichen? Shan verstand nichts an Jamyangs Tod, aber ihm wurde allmählich klar, dass er auch vom Leben des Lama nichts begriff.
Er ließ sich vor Jamyangs Altar nieder. Der Lama hatte ein einzelnes beschriebenes Blatt zurückgelassen, wie eine Opfergabe an Buddha. Es war ein Abschnitt des Diamant-Sutra. So sollst du dir diese vergängliche Welt vorstellen , stand dort. Als einen Sturm bei Tagesanbruch, eine Luftblase in einem Bach, einen Blitz in einer Sommerwolke, eine flackernde Lampe, ein Phantom und einen Traum . Mit neuerlicher Verzweiflung trat Shan nach draußen und wandte sich dem heiligen Berg zu, der im Licht des frühen Morgens erstrahlte. Die Wolkendecke darunter ließ es so aussehen, als würde er am Himmel schweben.
Shans Finger berührten etwas in seiner Tasche. Er zog das Stück Papier heraus, das er aus dem Knöchelholster des beinahe Geköpften mitgenommen hatte. Es war eine Liste von Orten und Zeitangaben; jeder Name tauchte mindestens zweimal auf, und die Daten erstreckten sich über das vergangene Jahr, abgesehen von den letzten beiden, die in den kommenden Wochen lagen. Die Namen gehörten allesamt zu tibetischen Städten. Tawang. Zayu. Zhangmu. Yadong. Und es war Jamyangs Handschrift. Shan fiel ein, dass er außer dem Zettel noch etwas bei den Leichen gefunden und eingesteckt hatte. Er kramte tiefer in seiner Tasche und holte die blutbefleckte Karte der Nonne hervor. Das Projektil, das sie getötet hatte, hatte an der Unterkante einen Halbkreis ausgestanzt. Auf der Rückseite standen Gebete in winziger und beengter tibetischer Schrift. Als Shan die Karte umdrehte, stockte ihmunwillkürlich der Atem, und er erkannte seinen Irrtum. Das war kein Ausweis. Es war ein Foto des Dalai Lama, bedeckt vom Blut der toten Nonne.
***
Shan hatte die Einwanderersiedlung während seiner Monate im Tal sorgsam gemieden, wodurch seine Fahrten häufig eine halbe Stunde länger ausfielen, weil er auf alte Straßen auswich und die kleine Stadt umrundete. Ein Parteifunktionär hatte in der Lhasa Times kürzlich geschrieben, die chinesischen Immigranten, die solche neuen ländlichen Zentren besiedelten, seien die »Frontkämpfer« in Pekings Krieg gegen die Vergangenheit. Willkommen in Baiyun , stand auf einem bereits verblassenden Schild am Stadtrand. Der Name hieß übersetzt Weiße Wolke. Das klang wie ein Touristenziel. Über dem Namen stand Pioniere des Mutterlandes und darunter ein weiterer Parteislogan: Die vorderste Welle in der Flut der Modernisierung .
Die Welle war über mehreren traditionellen tibetischen Bauernhöfen zusammengeschlagen, die sich an der Kreuzung zweier Landstraßen befunden hatten. Nun gab es die Höfe
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