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Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Titel: Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Hirte strauchelte und fiel bäuchlings zu Boden. Er sprang flink wieder auf, aber genauso flink packte eine Hand ihn am Kragen und stieß ihn mit Schwung zurück in den Stall.
    »Du kannst entweder hier kooperieren oder in meiner Arrestzelle«, ertönte eine ruhige Stimme.
    Shans Kehle wurde schlagartig trocken, denn ein uniformierter Kriecher betrat den Stall. Er schaute selbst instinktiv zum Fenster und wollte fliehen, aber dann erkannte er die Frau. Es war die Offizierin, mit der er im Kloster gesprochen hatte. Sie ging auf den Hirten zu und griff nach den Handschellen an ihrem Gürtel.
    »Jigten«, sagte der Mann erschrocken. »Ich heiße Jigten.«
    Die Frau streckte den Arm aus, mit der Handfläche nach oben. Der Mann öffnete den Knopf seiner Hemdtasche und holte seine Ausweiskarte hervor.
    »Gefällt dir dein neues Zuhause im Umsiedlungslager, Jigten Somala?«, fragte die Offizierin, während sie die Karte las.
    »Das Volk des Mutterlandes ist sehr großzügig«, murmelte er. Jeder Tibeter, den Shan kannte, hatte Sätze für die Begegnung mit einem Behördenvertreter einstudiert.
    »Du brauchst dir die Hände nicht mit all den Tieren schmutzig zu machen«, sagte die Frau. »Du hast jetzt sogar Strom.«
    »Wir streben danach, die Güte des Volkes zu vergelten«, deklamierte Jigten.
    »Strom. Freie Kost. Freie Unterbringung. Ein Paradies auf Erden.«
    Shan sah sie an. Es kam ihm fast so vor, als hätte auch sie ihren Text eingeübt.
    »Ein Paradies auf Erden«, wiederholte Jigten.
    »Du wolltest gerade auf Genosse  …« Sie sah Shan erwartungsvoll an.
    »Shan.«
    »Du wolltest soeben auf Genosse Shans Fragen antworten«, fuhr sie fort.
    Als Jigten wieder Shan ansah, lag Angst in seinem Blick. Früher hatten die Leute in Tibet dämonische Gottheiten gefürchtet, deren leichteste Berührung sie vernichten konnte. Im einundzwanzigsten Jahrhundert waren die Dämonen zurückgekehrt, nun in den grauen Uniformen der Öffentlichen Sicherheit.
    Die Offizierin lächelte Shan verschwörerisch zu und zog sich dann wieder nach draußen zurück. Jigten ließ sich auf einen Melkschemel sinken. »Die geben uns in dem Lager kein Geld, bloß ein wenig zu essen. Und schlafen müssen wir in diesen verdammten Kästen, die sie Häuser nennen.«
    »Du bist nicht aus Baiyun?«, fragte Shan.
    »Das ist nur für chinesische Pioniere.« Er deutete auf eine flache Kammlinie jenseits der Stadt. Shan sah dahinter mehrere dünne Rauchfahnen aufsteigen, wie von fernen Lagerfeuern. »Es wurden hundert Nomaden aus der Changtang hierher verfrachtet, fast unser ganzer Clan. Die Chinesen lehren uns, was es heißt, zivilisiert zu sein.«
    Shan erschauderte. Eine von Pekings neuesten Kampagnen beinhaltete die Vertreibung der dropkas von der Changtang-Hochebene, einer riesigen Graslandschaft, die sich über den größten Teil von Zentraltibet erstreckte. Die nomadischen Hirten wurden stattdessen in Lager gesteckt. Shan hätte Jigten am liebsten zum Fenster hinausgeholfen und wäre ihm gefolgt. Doch die Offizierin war bestimmt noch dort draußen. »Das erklärt, warum du gestohlen hast«, flüsterte er. »Aber ich habe dich nach diesen Tafeln gefragt.«
    Jigten hob eine Handvoll Wolle vom Erdboden auf. Es war gerade die Zeit der Schafschur. Als er sich die Wolle an die Nase drückte, nahm sein Gesicht einen wehmütigen Ausdruck an.
    »Das hier ist eine Stadt der Professoren«, erklärte Jigten. »Die mögen alte Dinge, vor allem alte chinesische Dinge. Sie sprechen von toten Kaisern, als wären das ihre alten Freunde. Manchmal haben sie Medizin, die ich eintauschen kann. Das ist alles, was ich will. Medizin. In unserem Lager wird uns richtige Medizin verweigert. Es gibt hier einen Professor mit einem Brillengestell aus Metall. Seine Tochter leidet an einer Lungenkrankheit. Manchmal hat er Extramedizin. Diese Tafeln hätten für mindestens einen Wochenvorrat gereicht.« Er schien Shans Zögern zu spüren und merkte auch, dass Shan besorgt zum Eingang schaute. Jigten stand auf und ging einen Schritt auf das Fenster zu, dann noch einen.
    »Hat Jamyang diese Professoren gekannt?«, fragte Shan.
    »Jamyang war ein Geist«, sagte Jigten und machte einen weiteren Schritt. »Geister kann man eigentlich nicht richtig kennen. Und man kann sie auch nicht richtig bestehlen.« Er legte eine Hand auf das Fensterbrett, wartete ab, ob Shan ihn aufhalten würde, und stieg dann nach draußen.
    Shan blickte dem unglücklichen, hinkenden Hirten hinterher und sah, wie er

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