Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
derzeit die Akten jedes einzelnen Bewohners von Baiyun durch.«
Der Einschnitt war tief, bis hinunter zum Knochen. Nur dass es kaum noch einen Knochen gab. Er war nach einem Trümmerbruch vor langer Zeit durch eine Prothese ersetzt worden. Shan fühlte, wie sich bei dem Anblick seine Brust zusammenzog.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Meng, beugte sich über den Einschnitt und zog das Fleisch mit den Händen auseinander.
»Titan«, erklärte Shan. »Das wurde nicht in China gemacht.« Er ging zum Kopf des Mannes und öffnete dessen Mund. Man hatte ihm mindestens ein halbes Dutzend Zähne gezogen. »Wenn man genau genug hinsieht, erzählen Leichen von ihrer Herkunft.«
»Ein Ausländer!«, keuchte Meng.
Das änderte alles. Ihre Neugier wich schlagartig großer Angst. Meng nahm hektisch das Tuch und bedeckte den Leichnam. »Wir müssen weg von hier! Sofort!«
»Nein«, erwiderte Shan. »Sie gehen! Gehen Sie raus! Vergessen Sie, dass wir hier waren!« Er ging zu dem anderen Mann,Nan, dem Chinesen, dem beinahe der Kopf abgetrennt worden war.
»Der nicht!«, sagte Meng. »Das hat keinen Zweck.«
Shan schlug das Tuch zurück. Der Kopf des zweiten Mannes war provisorisch wieder angenäht worden. Trotzdem war der Mann klein, erkannte Shan. Klein und stämmig und von dunkler Hautfarbe.
Meng hielt an der Tür inne. »Major Liang wollte heute auch noch mal herkommen. Wenn er Sie hier bei einem ermordeten Ausländer antrifft, wird es keine Rolle spielen, für wen Sie arbeiten.«
»Umso mehr ein Grund, dass Sie von hier verschwinden sollten.«
Sie musterte ihn kühl, drehte sich dann um und ging ohne ein weiteres Wort. Eilig zog Shan das Tuch ganz von Nans Körper. Das Holster am Knöchel des Mannes war entfernt worden, genau wie alles andere. Shans Blick fiel auf den eintätowierten schwarzen Vogel auf Nans Unterarm. Der Mann hatte mit seiner teuren Kleidung wie ein wohlhabender Geschäftsmann gewirkt, womöglich sogar ein hoher Funktionär. Als Shan ihn nun wieder mit dem Tuch bedeckte, war er sich nicht mehr so sicher. Meng hatte ihn gekannt und ihn und seinen Tod auf seltsame Weise abgetan. Doch auch Jamyang hatte ihn gekannt und ihm einen Zettel mit einer Liste tibetischer Städte gegeben. Shan umrundete ihn langsam, hob seine Gliedmaßen an, untersuchte sogar sein langes schwarzes Haar und die Kopfhaut und roch dann an den schwarzen Ablagerungen unter seinen Fingernägeln. Motoröl.
Als er das Gebäude verließ, war Meng nirgendwo zu sehen. Das verschlafene kleine Baiyun erwachte am späten Nachmittag zum Leben. Lastwagen bogen von der einzigen asphaltierten Straße des Tals auf die Tankstelle ab. Von dem kleinen Teehaus wehte der Geruch von gedünstetem Reis und Zwiebelnherüber. Auf dem Platz saßen vier Chinesen, alle älter als Shan, jeweils zu zweit beim Damespiel zusammen. Er zog eine Zeitung aus einer Abfalltonne und ließ sich auf einer Bank nieder. Während er so tat, als würde er lesen, beobachtete er die Damespieler und die Gebäude hinter ihnen.
Baiyun in den entlegenen Bergen Zentraltibets hatte nichts Tibetisches an sich. Es war eine chinesische Stadt beziehungsweise die Vorstellung irgendeines fernen Bürokraten, wie eine chinesische Stadt in Tibet aussehen sollte. Weiße Wolke. Eine chinesische Pseudostadt in einer Pseudoprovinz von China. Jemand hatte versucht, am Rand des Parks Ginkgos und Platanen zu pflanzen, aber die Schösslinge waren fast alle eingegangen oder standen kurz davor. Die Parkbänke fielen auseinander; einige ihrer Bretter fehlten. Die Fiberglasstatue von Mao, die als Brennpunkt des Platzes gedacht war, hatte bereits sichtlich unter den starken Staubwinden gelitten, die häufig durch das Tal tosten. In den Warenlagern der Regierung standen zahllose dieser Statuen bereit, um die jahrhundertealten chorten -Schreine zu ersetzen, die einst zu jedem tibetischen Dorf gehört hatten. Die Parteiführung in Tibet hatte einen neuen politischen Lieblingsslogan erkoren: Die Kommunistische Partei ist dein neuer Buddha . Als Shan das zum ersten Mal gehört hatte, hatte er es tatsächlich für einen Witz gehalten. Doch inzwischen prangte der Spruch auf Wänden und Bannern in ganz Tibet, und die tibetischen Schulkinder mussten ihn wie ein militantes Mantra aufsagen.
Shan schaute wieder zu der Statue. Die einzige tibetische Inschrift, die ihm in ganz Baiyun aufgefallen war, stand dort an der Oberkante des Sockels. Gelobt sei der Große Führer, dem wir unser Leben und unseren Wohlstand
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